Mit fast eurhythmischer Synergie wurde Claude Debussys einzige vollendete Oper „Pelléas et Mélisande“ in der zweiten Zusammenarbeit epochaler Kunstschaffender 2018 in Anvers zum Ereignis. Nach ihrem „Boléro“ für Paris kamen Marina Abramović, Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet für ein Lieblingswerk ambitionierter Szenographen erneut zusammen. Wegen der Pandemie gab es im Grand Théâtre de Genève 2020 eine Streaming-Premiere dieser Koproduktion, seit 26. Oktober folgt dort eine Serie von fünf Vorstellungen.
Pelléas & Melisande – Foto: © Magali Dougados
Prominent gestylte Performance in Genf: Debussys „Pelléas et Mélisande“ von Jalet, Cherkaoui und Abramović
Trotz imponierender Einzelmomente scheint die als Hauptwerk des musikalischen Impressionismus betrachtete Oper nach Maurice Maeterlincks Meilenstein der symbolistischen Dramatik resistent gegen eine ritualisierende und formal ausgeklügelte Darstellung, selbst wenn zum Beispiel die Inszenierung von Robert Wilson zu einem Höhepunkt der Rezeption wurde. In letzter Zeit gab es häufiger auf Spannung setzende Lesarten von „Pelléas et Mélisande“ wie von Jens-Daniel Herzog in Nürnberg: Diese widerlegten plausibel die gerne gesetzte Zuschreibung als undramatisches Schattenstück aus Andeutungen. Mit klarer Gliederung von Projektionen, Choreographie, unsichtbaren und sichtbaren Fäden schufen die serbische Performance-Ikone Marina Abramović, der belgische Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet für die 1902 in der Pariser Opéra-Comique uraufgeführte Oper deutliche Bilder zu der die Figuren und das Publikum im Ungewissen lassenden Prosa-Ballade von der rätselhaften Mélisande im schicksalhaft verschatteten Königreich Allemonde.
Das hoch dotierte Produktionsteam bebilderte seine stellenweise suggestive Deutung mit dramaturgischen Beistand (Koen Bollen, Piet De Volder). Die ästhetischen Anschauungen der Schöpfer Maeterlinck und Debussy wurden penibel berücksichtigt wie die Motivsprache der Dichtung, die Klangfarben als weiterer Wegweiser-Ebene sowie Debussys opponierende Affinität zu Wagner. Ein riesiger metallischer Ring umschließt wie ein Brunnenkreis die Figuren. Marco Brambillas Videopanoramen mit sich vergrößernden Planetenpunkten, Milchstraße und meditativen Farbexplosionen geben strukturelle Verständnishilfen, ereignen sich deshalb aber auch mit voraussehbarer Bildkraft. Die Inszenierung verletzt die geheimnisvolle Aura nicht, durchschneidet und zerreißt sie aber mit dem Dominanzanspruch einer flutenden Bild- und Bewegungssprache.
Pelléas & Melisande – Foto: © Magali Dougados
Erstaunlich: Obwohl man die Partitur in den letzten Jahren schon differenzierter und mächtigerem Hypnose-Sog hören konnte als vom Orchestre de la Suisse Romande unter Juraj Valčuha, wirkte Debussys im vierten Akt machtvoll auftrumpfende und im fünften sphärisch schön verklingende Instrumentation weitaus beredter als die mit Licht, Form und Farben erläuternde Inszenierung. Das gilt auch für die sieben Tänzer aus dem Genfer Ballett und Cherkaouis Kompanie Eastman. Die Kraft und Energie der sich auch als patriarchale Chiffren ins Geschehen drängenden Körper nimmt gefangen, wirkt manchmal aber überladen. Cherkaouis Choreographie ist weitaus bewegter als die Gesangslinien und das Ensemble, bei dem Blickrichtungen wichtiger werden als andere Bewegungen und spärlichen Berührungen.
Am Ende dieser hochkarätigen Performance gibt es doch einen zutiefst bewegenden Moment. Zurück bleiben nur der alternde Golaud und nach dem fast sakralen Verschwinden ihrer ‚Seele‘ die tote Mélisande. Konstellation also wie zu Beginn, wenn die beiden wie zufällig durch unsichtbare Fäden aufeinandertreffen und von den Tänzern noch mehr einander zugetrieben werden. Die Verzweiflung darüber, dass Golaud nichts über die an seinen Halbbruder Pelléas verlorene Mélisande erfahren hat und nie mehr dazu die Möglichkeit haben wird, sprengt am Ende die formale Linie. Die Gewaltszenen davor wirken wie entschärft.
Leigh Melron ist als Golaud mit konzentrierten Bewegungen und markantem Legato der Stärkste in dieser Besetzung. Die Hauptpartien waren mit der Inszenierung bereits vertraut. Mélisande wirkt hinter den Tüll-Fransen der mit klaren Schnitten und Herrenanzügen gestaltenden Kostümdesignerin Iris van Herpen gläsern. Mari Eriksmoen aber setzt im Parlando klare Spitzen und gibt der Figur dadurch neben Distanz auch Kontur. Visuell ist Björn Bürger als Pelléas die ideale Erscheinung eines jungen Mannes auf unentschlossener Suche, stimmlich aber bereits mit Energie in den dramatischeren Regionen eines Golaud angekommen. Nicolas Testé gibt mit hier gut passendem sprödem Bass den von der Regie kaum profilierten König Arkel. Mark Kurmanbayev als Arzt und Schäfer überzeugt mit Präsenz und schönem Material, Sophie Koch ist eine aus szenischer Unauffälligkeit leuchtend singende Geneviève. Einen spannenden Akzent setzt Charlotte Bozzi als Golauds kindlicher Sohn Yniold. Dieser ist ein bereits im Wesentlichen geprägter Spross der Familie. Wie oft gerät hier zum mit einem sinnfällig expressiven Tanzduo erweiterten Höhepunkt, wenn Golaud das Kind einspannt, um Gewissheit über den Treuebruch seiner Frau Mélisande zu bekommen. Am Ende großer Applaus. Auch beim jungen Publikum höherer Schulklassen kommt das gänzlich unnötig als kompliziert geltende Werk gut an.
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