Zu einem Festival der Neuen Musik gehört inzwischen auch die Klanginstallation als fester Programmteil. Die Apologeten der reinen Lehre in der Neuen Musik verschmähen zwar meist den neumodischen Firlefanz in düsteren Räumen und Gewölben, wo es summt und brummt und im Lichtzerhacker blitzartig seltsame Gegenstände auftauchen, die irgendeine Funktion besitzen und etwas bedeuten. Doch in Witten werden auch die Klanginstallationen mit Überlegung ins Konzept eingebaut, in wechselhafte Beziehungen zu Programm oder der Geografie der Veranstaltungsorte gesetzt.
Der Chef persönlich verkündete die Rückkehr: zum Prinzip Kammermusik, zur intimen Größe, zur Kraft des Kleinen. Das oft auf Orchesterstärke gewachsene Kammerensemble der vergangenen Jahre sollte abspecken, das Solo, das Streichquartett, die kleine vokale Formation, das höchstens mittelstark besetzte Ensemble wieder die kammermusikalische Herrschaft bei den Wittener Musiktagen übernehmen. An Vielfalt der Perspektiven, an Farben und Kontrasten mangelte es dennoch nicht. Die Wittener Tage sind seit Harry Vogts Entree vor elf Jahren zum vielleicht lebendigsten Festival der Musica Nova geworden. Diesmal gab es auch wieder, sogar zwei, Musiktheater-Neuheiten, über die wir in unserem Musiktheater-Dossier auf den Seiten 43/44 berichten. Zu einem Festival der Neuen Musik gehört inzwischen auch die Klanginstallation als fester Programmteil. Die Apologeten der reinen Lehre in der Neuen Musik verschmähen zwar meist den neumodischen Firlefanz in düsteren Räumen und Gewölben, wo es summt und brummt und im Lichtzerhacker blitzartig seltsame Gegenstände auftauchen, die irgendeine Funktion besitzen und etwas bedeuten. Doch in Witten werden auch die Klanginstallationen mit Überlegung ins Konzept eingebaut, in wechselhafte Beziehungen zu Programm oder der Geografie der Veranstaltungsorte gesetzt. class="bild">
So entwickelt sich neben dem traditionsreichen Saalbau, in dessen zwei großen Sälen der überwiegende Teil der Konzerte stattfindet, das Haus Witten zu einem zweiten Zentrum der Kammermusiktage. Vom Saalbau und dem dazu gehörenden Parkhotel, das während der Tage fest in der Hand der Künstler und Rundfunkmitarbeiter ist, geht man 200 bis 300 Meter durch einen gepflegten, leicht hügeligen Park mit hohen Bäumen zum Haus Witten, einst Herrensitz mit wehrhafter Burganlage der Herren von der Recke, im 19. Jahrhundert im Besitz eines bürgerlichen Fabrikanten. Im letzten Krieg verwandelten alliierte Bomben die Burg in eine Ruine, die allerdings so attraktiv ausschaute, als gehörte sie zur Ruinen-Romantik. Vor einigen Jahren schritten Wittens Stadtbauer zur Tat: Sie zogen in die entkernten Burg-Reste einen neuen Kern aus Glas und Stahl ein. Jetzt sitzt man in den neuen modernen Räumen und kleinen Sälen und schaut durch die Glaswände auf die schönen alten Mauerteile.
Die Wittener Musikschule fand hier eine würdige Arbeitsstätte, auch die Volkshochschule residiert in einem der beiden Flügel. Ein Café im Eingangstrakt bedient auch bei gutem Wetter Plätze im intimen Innenhof, von dem aus man eine Brücke betritt, die über den alten Burggraben und die tiefliegende Verkehrsader in einen anschließenden Wald führt. Das wird deshalb so genau beschrieben, weil die räumlichen Gegebenheiten die 1948 in Bremen geborene Christina Kubisch spontan zu einer Klanginstallation inspirierten. Christina Kubisch, die bei K.H. Sonderborg Malerei, anschließend Querflöte und Komposition studierte, unter anderem bei Donatoni in Mailand, und sich danach immer intensiver mit elektronischer Klangerzeugung, Performances und Installationen beschäftigte, erspürte sofort das besondere Spannungsfeld des Ortes: die „Diskrepanz zwischen Gehörtem und Gesehenem“, auf der vorbeiführenden Straße der ständige Verkehrslärm, in der Burg die Idylle der Vergangenheit, zumindest in der Erinnerung. Diese „Idylle“ besaß ihre eigenen Geräusche. Mit Hilfe eines magnetischen Induktionssystems „vertont“ Christina Kubisch die Bereiche von Brücke, Burggraben, Turm und Garten „neu“. Wasser, Vögel, Pferdehufe, Ritterrüstungen, Minnesang, Türenknarren und Kettenrasseln fungieren als neue alte Geräuschquellen, die der Spaziergänger im Gelände über Kopfhörer empfängt. Die verkabelte Idylle erweist sich als raffinierter virtueller Akt, der zum Nachdenken über Formen der Wirklichkeit und der Zeitabläufe anregt. Wer den Kopfhörer abnimmt, springt aus der virtuellen Vergangenheit sofort wieder in die Realität des heutigen Straßenlärms. „The Mystery of History“, so der Titel der Installation, vollzieht sich als Klangtunnel im Zeittunnel. Im elektronischen Zeitalter ist nichts unmöglich.
Zu dieser Installation fügt sich gleichsam im Umkehrschluss eine Erfahrung, die Salvatore Sciarrino, dessen „Tre canti senza pietre“ in Witten uraufgeführt wurden, im Programmbuch mitteilt: Wie bei einem Versuch, seine Musik per Walkman, so abgeschottet gegen die Umwelt, zu hören, sich die Geräusche dieser Umwelt gleichwohl gegen seine Musik durchsetzten, weil die sich verflüchtigende Natur seiner Musik den Umweltgeräuschen äußerst nahe käme und diese deshalb über die Abschottung triumphieren konnten. Das sind alles spannende Koinzidenzen zwischen verschiedenen Sphären, wobei im Falle Sciarrino Kunsterfindung und Realität in einem Punkt zusammenfallen, die „Täuschung“ sich aufhebt.
Eine andere Variante, Klänge mit einem öffentlichen Raum zu verbinden, zeigte in der oben genannten Parkanlage Andreas Oldörp. Er pflanzte entlang des Fußweges fünf sechs bis neun Meter hohe Metallstäbe, die wie Orgelpfeifen wirken, ein. Sie sind durch ein unterirdisches Röhrensystem verbunden, durch das sie ein Gebläse mit einem ständigen Luftstrom versorgt, der in den „Orgelpfeifen“ sirrende, summende Klänge erzeugt. Der so entstehende Klangraum zwischen den „Orgelpfeifen“ wird durch die Anordnung der Metallstäbe optisch gleichsam eingefasst, zur Optik gehört auch das Material der Stäbe: Kupfer, das mit der Zeit Patina ansetzt. Die „Orgelpfeifen“ erscheinen im Gesamtbild des Parks wie geheimnisvolle, quasi mythische Zeichensetzungen. Sinnvoll wäre es, die Installation möglichst für längere Zeit an diesem Ort stehen zu lassen.
Kontraste, Gegensatzpaare, Konzentration: Witten hatte dramaturgisch überlegt zu den Themen Aufträge vergeben. Was ragte hervor: Johannes Kalitzkes Streichquartett „Six Covered Settings“, Günter Steinkes „Vereinzelt, gebannt...“, ebenfalls für Streichquartett – zwei eigenwillige, durchdachte und inspirierte Werke, vom Arditti-Quartett souverän interpretiert. Dann Unsuk Chins interessantes Stück für Violine und Elektronik „spectres-spéculaires“ oder Kilian Schwoons Ensemble-Stück „Broken Consort“. Schließlich zwei Werke für Streichtrio beziehungsweise Sextett, mit denen die Norwegerin Cecilie Oere bewies, dass man auch ohne Elektronik raffinierte lineare Strukturen komponieren kann, die das Klangmaterial unablässig neu belichten.
Auch das Vokalexperiment präsentierte sich in Witten markant. Virtuos die Lautpoeten Jaap Blonk und Valeri Scherstjanoi mit ihren Sprechkunststücken zwischen Dichtung, Musik und Performance. Überwältigend Donatienne Miche-Dansac mit ihrem Vortrag von Aperghis’ „Récitations“ aus den Jahren 1977/78. Keine Uraufführung zwar, aber ein glänzend strukturiertes Stimm-Theater, das unbedingt in den thematischen Kontext von Witten 2000 gehörte.