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Wassermusik, nicht von Händel: Tan Dun. Beide Fotos: Charlotte Oswald
Wassermusik, nicht von Händel: Tan Dun. Beide Fotos: Charlotte Oswald
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Reiche Orchesterfarben, strenge Linien

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West-östliche Wege: „Secret Land“ von Tan Dun und „Kalligraphien“ von Hans Zender
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Für Mitteleuropäer war China lange das exotische Reich der Silberbarken und Porzellanpavillons wie in Mahlers „Lied von der Erde“. Im Zeitalter der Globalisierung rückt uns das ferne Riesenland merkwürdig nah: statt teurem Porzellan produziert und liefert es billige Alltagsgegenstände, Textilien und elektrotechnische Erzeugnisse. Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen bewegen sich rasant nach oben und nähern sich im Volumen immer mehr denen der USA an. Obwohl die geistigen und künstlerischen Traditionen dieses Riesenlandes noch nicht gänzlich der industriellen Massenproduktion wichen, ist der Verdrängungsprozess mächtig und offenbar unaufhaltsam.

Beispielhaft zeigt sich dies im kompositorischen Schaffen des 1957 geborenen Tan Dun. In der zentralchinesischen Provinz Hunan erlernte er zunächst einheimische Musikinstrumente wie die Kniegeige Erhu und die Bambusquerflöte Dizi. Die Kulturrevolution führte ihn zur Geige und förderte so seine Auseinandersetzung mit westlichen Traditionen am Konservatorium der Hauptstadt. 1986 ging Tan zu weiteren Musikstudien nach New York, wo er seitdem lebt und vielfältigsten Einflüssen ausgesetzt ist. Seine Identität als chinesischer Komponist hat dies zunächst stimuliert, dann aber auch in Frage gestellt und nivelliert. Möglicherweise bedeuten die vielen Auszeichnungen wie Grawemeyer Award, „Komponist des Jahres“, Grammy und Oscar für ihn nicht nur eine Förderung, sondern auch einen Anpassungsdruck, der sein künstlerisches Profil bedroht.

Für die Metropolitan Opera New York schreibt Tan Dun gegenwärtig an einer neuen Oper, die James Levine 2006 uraufführen wird. Mit seinem „Paper Concerto“, einem Auftragswerk des Los Angeles Philharmonic Orchestra, wurde 2003 die neue Walt Disney Hall eröffnet. Nachdem auch die Symphonie-Orchester von Amsterdam, Boston, New York, Philadelphia, London und Tokio Kompositionsaufträge an den vielbeschäftigten Chinesen erteilt hatten, wollten die Berliner Philharmoniker nicht zurückstehen. Simon Rattle lud ihn in sein Pariser Haus, ein ehemaliges Bordell, ein und zeigte ihm dessen Geheimnisse. Dieser Rundgang gehörte zu den Inspirationsquellen seiner Komposition „Secret Land“, die auch in ihren Satzüberschriften („Misterioso Adagietto“, „Misterioso Scherzo“, „Misterioso Melancholia“ und „Misterioso Generoso“) okkulten Neigungen huldigt.

Tan Duns Kompositionen, häufig Gegenentwürfe zur galoppierenden Modernisierung Chinas, lassen sich durch elementare Materialien wie Wasser oder Papier anregen. Die einleuchtende Grundidee von „Secret Land“ beruht auf der chinesischen Auffassung, wonach jeder Ton ein Lebewesen mit Kopf und Schwanz, Anfang und Ende repräsentiert und auch nach seinem Verklingen weiterexistiert. „Ich versuche, die tonlichen Gesten von einzelnen gezupften Tönen zu verstärken und in die großen Dimensionen des Orchesterklangs zu übertragen.“ Die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker ersetzen dabei die asiatischen Instrumente Sitar und Pipa und fungieren als Impulsgeber. Es beginnt mit einer Glissandowendung eines einzelnen Cellos, die in einem langen Vibrato endet, bevor sie in die Cellogruppe und dann ins Orchester einwandert.

Leider begnügte sich Tan nicht mit dieser Grundidee, sondern verband mit dem Titel „Secret Land“ ein anspruchsvolles Programm: „Die vier Sätze zeigen meine psychologische Entwicklung bei der Imagination einer realen und zugleich surrealen Reise: Einerseits ist es eine Entdeckungsreise in das Land der Musik, des Klangs, der Struktur, der in der westlichen Klassik lange Zeit unterbrochenen Tradition der Zupfinstrumente, und andererseits stelle ich mir das dunkle Mittelalter vor und Marco Polos Reise nach China, in die Verbotene Stadt.“ Wie in seiner „Marco Polo“-Oper wollte Tan damit in einer unsichtbaren historischen Vernetzung auf das kulturelle Phänomen der Seidenstraße hinweisen. Aber statt einer Bereicherung bewirkt diese Anhäufung programma- tischer Ideen eine Überfrachtung. Die zunächst plausiblen Weiterführungen solistischer Aktionen durch das Orchester werden immer reichhaltiger, gefälliger und beliebiger. Es gibt faszinierende Klänge wie die einer Glasharfe, dann aber vielfache Anspielungen auf Klassiker der Orchesterliteratur, ohne dass die Fülle der Stilzitate sich zu einem Ganzen fügt. Freimütig bekennt der Komponist, es gebe keinen sichtbaren oder hörbaren Sinn, „und doch ist alles miteinander verbunden“. Für ihn haben sich die Grenzen, auch die zwischen den Gattungen, überlebt. Obwohl sein neues Werk die simplen Popformeln seiner „World Symphony for the Millenium“ (1999) meidet, wirkt es über weite Strecken wie eine bunte Mischung ohne innere Konsequenz. Einheitsstiftendes Moment von „Secret Land“ bleibt die Biografie des Komponisten, der als Globetrotter überall zu Hause ist.

Das im vergangenen Juni uraufgeführte Stück passt zu den Hörer-freundlichen Crossover-Tendenzen, denen sich die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle verschrieben haben. Anders als unter dem Nono-Freund Abbado wird die Avantgarde dabei fast systematisch ausgespart. Um so wichtiger ist es, dass das im klassizistischen Konzerthaus am Gendarmenmarkt beheimatete Berliner Sinfonie-Orchester diesem Trend nicht folgt. Nur wenige Tage nach der Tan Dun-Uraufführung spielte es unter Leitung des Komponisten ein neues Werk von Hans Zender, das sich ebenfalls um einen westöstlichen Kulturdialog bemüht, verwandte Grundimpulse aber folgerichtiger realisiert. Tan hatte die Bewegung innerhalb eines Tones mit einer Kalligrafie verglichen und als lebendigen Verlauf mit unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnet.

Zender beschäftigt sich seit Jahren mit asiatischer Kultur, um zu einer neuen Offenheit des Hörens und zu neuartigen Formprozessen zu kommen. In seinen 1998 begonnenen und inzwischen fünfteiligen „Kalligraphien“ geht er von der Idee der Einstimmigkeit aus, von Linien und sich fortsetzenden Impulsen. Dem Vorbild mittelalterlicher Kalligrafen folgend schrieb er die Noten in einem Zug und ohne nachträgliche Korrekturen nieder und kam damit zu neuartigen Formprozessen. Während Tan vom Klang asiatischer Zupfinstrumente ausging, basiert Zenders Komposition auf alten Mönchsgesängen, auf gregorianischen Melodiemodellen, die mit weitaus größerer Konsequenz verwendet werden. Melodiemodelle der Pfingst-Liturgie bearbeitete der Komponist nach kanonischen und seriellen Prinzipien, wobei er die temperierte Stimmung zur kaum noch wahrnehmbaren Dichte von 72 Zwölfteltönen erweiterte. Die Klangwelt der drei umgestimmten Klaviere und Harfen, denen sich die übrigen Instrumente anglichen, wirkte archaisch wie futuristisch zugleich. Obwohl von den gregorianischen Wurzeln nichts mehr zu hören war, wirkte ihr Geist in den strengen Formen nach.

Die beiden in Berlin uraufgeführten Stücke I und V bilden den Rahmen des Zyklus, ihren Anfang und ihr Ziel. Wie bei „Secret Land“ handelt es sich um eine spirituelle Reise, deren Stationen durch Peitschenknall und Glocken sowie die für jedes Stück individuelle Orchesterbesetzung signalisiert werden. Das erste Stück beginnt mit harten Schlägen, die sich über das ganze Orchester ausbreiten und zu farbigen Mixturklängen zunehmend weicher und farbiger werden. Das Schlussstück erweitert sich nach einer langsamen Einleitung zu flimmernder Fülle, nimmt dann härtere Konturen an und wird zur massiven Isorhythmik, die zum Schluss nur noch von Trompeten und Posaunen gespielt wird. Wo Tan Dun das Füllhorn der Orchesterfarben allzu freigiebig und betörend einsetzt, beharrt Zender auf dem Primat der Linie. Für 2009/10 bereitet China ein „Jahr der deutschen Kultur“ vor. Neben Bach, Beethoven, Goethe und Wagner sollte man dabei auch Zenders „Kalligraphien“ berücksichtigen.

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