Henrik Ibsens sinnsuchender Abenteurer Peer Gynt, der Lügner, Angeber, Aufschneider, hat viele InterpretInnen gefunden, im Theater, im Film, aber auch in der Musik. Einer ist besonders populär: Edvard Grieg, aber genau der hat 1874-76 mit der Schauspielmusik und seinem so deutlichen skandinavischen Lokalkolorit am wenigsten getroffen, um was da allen anderen ging. Den 1971 geborenen estnischen Komponisten Juri Reinvere, der auch das Libretto nach Ibsen schrieb, regte das verkorkste Leben des Bauernsohnes Peer zu einer regelrechten Studie über das Peer selbst verwirrende Innenleben an: Der Gang durch die Lebensstationen sind der Passionsweg eines getriebenen und immer wieder fliehenden Menschen, dessen Deutung ohne Ende vielseitig zu sein scheint, wie viele große Regisseure immer wieder gezeigt haben.

Stadttheater Bremerhaven: PEER_GYNT.
Reichtum an Feinheiten – Juri Reinveres musikalische Sicht auf Ibsens „Peer Gynt“ in Bremerhaven
Das Stadttheater Bremerhaven wagte jetzt nach der Uraufführung 2014 die deutsche Erstaufführung – das Programmheft sagt sogar Uraufführung der deutschen Fassung – in der Regie von Johannes Pölzgutter und unter der emphatischen musikalischen Leitung von Marc Niemann mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven. Und es stellte sich schnell heraus, dass man der Stilrichtung neoromantisch nicht so einfach ein ästhetisches „geht gar nicht“ machen kann. Denn es gelingt Reinvere, unter einer stilistisch auch recht glatten und kulinarischen Oberfläche, die auch immer wieder in die Klischeekiste des Expressionismus greift, ein unerwarteter Reichtum an Feinheiten. Wir hören da Strauß, Wagner, sogar Puccini, werden aber immer wieder hineingezogen in eine geheimnisvolle Psychowelt völlig unerwarteter Klänge – in der Schlagzeug und Elektronik eine große Rolle spielen.
Pölzgutter entfaltete in einem eigenen abstrakten Bühnenbild – ein nach drei Seiten offener, drehbarer (Würfel-)Kasten – die krause Fantasiewelt des Peer: die Hochzeit Ingrids, die er entführt, die Welt der Trolle, die Welt der hier sogenannten „Irrenanstalt“, die Geschäftswelt in Marokko und das Schlachthaus in Rom. Einen Gegenwartsbezug gibt es: der unvergessene Amoklauf des Norwegers Anders Breivik, der 2011 in seinem rechtsextremistischen Hasswahn 69 Jugendliche erschoss: das tut auch Peer, als er sich durch die Anhimmelung der Menschen (Trump?) als Messias fühlen muss.

Stadttheater Bremerhaven: PEER GYNT.
Aus dem Ensemble überzeugt vor allem der Tenor Michael Müller-Kasztelan mit der sängerisch wie darstellerisch ebenso anspruchsvollen Riesenpartie, Victoria Kunze als opferungsbereite Solveig und der Counter Gerben van der Werf als Luftgeist und Grinsekatze, der einzige, der dem Lügner Peer so richtig Bescheid sagt.
Gut gelungen sind auch die übergroßen Videoprojektionen von Peers Gesicht, die ihrerseits die ganze Psychogeschichte zeigen: wer bin ich denn eigentlich? Diese Frage ist das viel zu lang geratene philosophische Schlussgespräch zwischen dem Friedhofswärter und Peer. Übrigens: ein Sonderlob auch dem Chor! Ich besuchte die zweite Aufführung, die so schlecht besucht war, dass man ernsthafte Anfragen an Interesse und Neugier des Publikums stellen möchte. Ein Besuch lohnt! Die nächsten Aufführungen sind am 16., 25. und 29. Mai.
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