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Foto: Beth Chalmers

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„Sandalenfilm im Kopf“: Glucks „La clemenza di Tito“ bei Gluck 2024 in Bayreuth

Vorspann / Teaser

„Über die Menschlichkeit der Mächtigen“ Unter diesem Motto präsentieren die Gluck-Festspiele vom 9. bis 18. Mai Glucks und dann Mozarts „La clemenza di Tito“ im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth sowie Konzerte in Castell, Fürth, Lehrberg und Nürnberg. Der Eröffnungsabend an Christi Himmelfahrt wurde zum von Leiter Michael Hofstetter präzis gesteuerten Arien-Feuerwerk in runder Besetzung. Eine vielversprechende Farbe mit Zukunft für den mitteleuropäischen Festivalkalender. Das Publikum zeigte Begeisterung für die Musik und rebellierte gegen die Eröffnungsrede von Pater Anselm Grün. 

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Der Eklat war bereits da, bevor die Musik einsetzte. Aus einer Proszeniumsloge des Markgräflichen Opernhauses hielt Benediktinerpater und Führungskräftetrainer Anselm Grün den Vortrag zum Festspielmotto „Menschlichkeit der Mächtigen“. Aber ein Großteil des Publikums begann nach 20 Minuten mit sehr weichen Aktualisierungs- und Relevanz-Manövern den Widerstand ohne Worte. Erst verließ ein Mann demonstrativ das Parkett – später schmerzte ein rüpelhaftes Buh. Davor konnte nicht einmal freundlicher Applaus den redseligen Pater bremsen. Gegen Ende müde Blicke und einvernehmliches Crescendo mit Husten, Seufzen, Schniefen. Unhöflich? Nein. Im Kontakt-Menü der Abtei Münsterschwarzach steht, dass man für einen Grünschen Vortrag mit einer Vorlaufzeit von ca. 1,5 Jahren rechnen muss. Zeit genug also für einen professionellen Redner im Topp-Level, Stoff und Anlass angemessen zu präsentieren. Grün setzte das Thema „Herrscherideal“ unter die simplen Gleichungen „Gluck = Humanität“. und „Mozart = Humanität + Spiritualität“. Die rhetorische Stimmungsbremse wirkte dann leider ein bisschen im festlichen Opernabend nach. Thorsten Danner wirkte in seine Zwischentexte Bezüge zu heutigen Betrachtungsmethoden („Sandalenfilm im Kopf“ mit „manipulativen Prinzessinnen“) und „Asterix“-Floskeln. Das amüsierte und informierte. 

Natürlich war es hochspannend, was der in die europäische Musikwelt aufbrechende Oberpfälzer Christoph Willibald Gluck aus Pietro Metastasios über 70-mal vertontem Libretto „La clemenza di Tito“ machte, zumal Festspielprinzipal Michael Hofstetter am Samstag zum direkten Vergleich Mozarts späte opera seria als Gastspiel des Theaters Pilsen dirigieren wird. Das wurde ein fast unfairer Schlagabtausch. Bei Glucks in Neapel 1752 uraufgeführter Oper über den manisch gutmütigen Kaiser (und Jerusalem-Zerstörer) Tito Vespasiano verzichtete man auf die Rezitative. Das gesamte Ensemble sang aus Noten und genehmigte sich nur in Ausnahmen dramatische Spielakzente, während Mozart komplett mit Szene und Rezitativen folgen wird. Michael Hofstetter und das Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach begaben sich erst nach der Pause aus der Sicherheitszone für eine packendere Intrigen-Sukzession und Diskursflächen zum absolutistischen Herrscherideal. Mit eher gemessenen Tempi und hingebungsvoller Detailfreude zeigte Hofstetter Glucks spezifische Instrumentationseffekte. Die Thüringen Philharmonie klang erst sehr akkurat, später aufblühend. Wie perfekt Gluck in „Tito“ Erwartungshaltungen an gängige Formmuster der Opera seria bediente und so schnell in die Elite der Opernkomponisten aufrückte, hörte man. Allerdings nicht Glucks in den Arien steckende Dynamik, wie sie etwa von Werner Ehrhardt 2015 in einer CD-Aufnahme unter anderem mit Valer Sabadus (dem Sänger eines Festspielkonzerts) oder 1987 von Jean-Claude Malgoire entwickelt wurden.

In Glucks „Tito“ gibt es kein Duett – ein zügiges Final-Ensemble beendet die Reihe langer und oft sehr schöner Arien. Diese Höhepunkte wurden vom Publikum begeistert umjubelt. Zum Beispiel das Bravourstück des nur aus edlen Beweggründen zum Attentat motivierten Sesto, aus dem Gluck 25 Jahre später das wunderbare Gebet der „Iphigénie en Tauride“ modellierte. Bruno de Sá liefert eine konditionsstarke, ja sportive Leistung. Bei diesem Höhenregionen-Furor kann man auch einige leicht rissig attackierte Spitzentöne als Kehlen-Goldstaub goutieren. Zweites Musikwunder ist die erste Arie des bei Mozart zum Nebenrollen-Bass gewordenen Publio. Dessen flammend empathische Rede gestaltete Hannah-Theres Weigl mit Inbrunst und kantabler Sensibilität. Perfekte Koloraturen, Attacke und melancholische Blütensprossen zeigt Vanessa Waldhart für die von Liebe, Demütigung und Rache zerrissene Vitellia. Ohne Hofstetters Noblesse-Bremsen hätte sie noch mehr Primadonnen-Dynamit für Glucks Arien-Explosionen. So bleibt sie hier ein Bravoursopran an zu kurzer Dirigenten-Leine. Goldrichtig, weil etwas trocken wirkte Aco Bišćević als vergebender Kaiser, wird durch stoische Belcanto-Linien zum kongenialen Potentaten. Bei Gluck haben die Figuren Annio und Servilia mehr Umfang und Gewicht als bei Mozart. Maria Hegele und Robyn Allegra Parton agieren auf Exzellenz-Niveau. 

Die Gluck-Festspiele haben (ähnlich wie die Simon-Mayr-Ambitionen in Ingolstadt) hohe Dringlichkeit, in Glucks Gesamtwerk gibt es noch viele Kenntnislücken. Hier blieb das Arien-Konzert etwas hinter den Erwartungen an ein Initiativ-Festival zurück. Zutiefst bedauerlich ist der Verzicht auf Rezitative bei einem Komponisten, dessen musikgeschichtliche Bedeutung in der Entwicklung der rezitativischen Deklamation liegt. Ensemble und Gesamtleistung waren demzufolge viel besser als der konzeptionelle Rahmen. Jetzt fehlt nur noch die Idee zur zündenden Sensation. Dafür haben die Gluck-Festspiele alle im Klassik-Business wichtigen Voraussetzungen: ein begeistertes Publikum, einen couragierten Förderverein, erstklassige Locations, überregionalen Zuspruch und hohe Qualität.

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