Auf der Bühne sitzt eine grün gekleidete junge Frau am Flügel und singt verschiedene Opern-Arien, Königin der Nacht und so …auch mal den Tristan-Akkord. Sie spielt selbst ziemlich gut Klavier, alles Angefangene bricht sie ab und wirft entnervt die Noten auf den Boden. Aber wir sind doch in der mit Spannung erwarteten Premiere von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ im Theater Bremen?
Scharfsinnig, gnadenlos, ausgelassen und witzig – „Orpheus in der Unterwelt“ am Theater Bremen
Oder doch ein Arienabend, in dem auch die fabelhafte Sopranistin Diana Schnürpel ihr pianistisches Können zeigen darf. Aus dem Fahrstuhl an der Seite (Bühne: Volker Thiele) stürzt ihr Mann herein, der langweilige Geigenlehrer mit seiner langweiligen Musik, dem sie dann seine Geige zertrümmert. Ein fantastisches Eingangsbild, mit dem der Regisseur Frank Hilbrich die Koordinaten seiner Inszenierung aufmacht: die Sängerin ist Eurydike. Sie hat diese Ehe ebenso gründlich satt wie ihr Mann, zertrümmert seine Geige und die Interpretin der Göttergattin Juno darf kommentieren „Wer von der Liebe Glück erwartet, der hat keine Ahnung“. Niemand kann das kompetenter als der Gast Lilo Wanders – ihre Kommentare sitzen.
Sowohl der Fahrstuhl, aus dem alles Heil und Unheil quillt, der dann später in der Unterwelt angekommen ist als auch die Existenz der Eurydike als Sängerin sind die Säulen der Inszenierung. Später wird Eurydike in der ebenso langweiligen Unterwelt singen, dass ihr Sopran seinen Glanz verliert und sie knallt ihre Wut auch mal auf dem Klavier raus. Köstlich, wie die Götterwelt im Olymp sich vor der Glotze langweilt, wie alle erkennen, dass sie im Volk einen Bedeutungsverlust haben – „heute sind wir nur noch Mythologie“, so Maria Martin González als Diana – und wie sich ihr Aufstand gegen Jupiter und ihr wild entschlossener Besuch in der Unterwelt aufbaut: wie sich der Can Can zunächst über einen „teuflischen Tanz“ entwickelt, der nur über Kopfhörer zu erleben ist – also nicht für uns, das Publikum – , ist einer der zahlreichen Höhepunkte.
Zu den Highlights der Inszenierung zählt auch Offenbachs großartige Erfindung der „öffentlichen Meinung“: In überdimensionalen aufgepumpten schwarzen Plastikkugeln stecken Ulrike Mayer (toll) und eine paar andere, die den Fehltritt des langweiligen Geigenlehrers (Oliver Sewell) ebenso wieder auf die Reihe kriegen müssen wie denjenigen Jupiters (Christian Andreas Engelhardt), der sich Eurydike in Form einer süßen Fliege erfolgreich nähert.
An diesen moralischen, sich aufplusternden Kugelmenschen scheint ebenso viel abzuprallen wie aber auch Wirkung zu zeigen, denn Orpheus verlangt im Olymp mit Christoph Willibald Glucks „Ach ich habe sie verloren“ seine Frau zurück, die er ja gar nicht mehr will. Die Schwarzen werden mit dem Lethe-Trunk betrunken gemacht und toben den Can Can mit. In all dem gibt es viele Kostbarkeiten, wenn der Götterbote Merkur (Yosuke Kodama) vom Himmel schwebt und Cupido (Mariam Murgulia) seine Liebesfreude austobt. Auch Karsten Küsters, der über 40 Jahre am Theater Bremen engagiert war, verzauberte als Styx mit „als ich noch Prinz war von Arkadien“. Ein besonderes Sahnehäubchen war die Bewegungsleistung des Tänzers Evert Bakker als schwarzer Pudel als Begleitung von Pluto/Artisteus: der wuselte sich wunderbar mit seinen Interessen durch (Jan Spinetti).
Alles in allem bestach die temporeiche Aufführung in mitreißenden Fantasiekostümen (Regine Standfuss) vor allem in ihrem Verzicht auf knallige Gags zugunsten von manchmal atemberaubender Aktualität wie oben und unten, wie die Frage nach der Liebe und vor allem der öffentlichen Meinung. Denn mit dieser Satire über die dekadente Bourgeoisie im Gewand des antiken Mythos Orpheus und Eurydike gelang Offenbach 1858 der Durchbruch seiner einzigartigen Gattung „opéra Bouffe“: scharfsinnig, gnadenlos, ausgelassen und witzig hielt er der Gesellschaft des zweiten Kaiserreiches (Napoleon III.) den Spiegel vor. Hilbrich hat die Urfassung übersetzt und mit nur ganz wenigen, aber gut sitzenden Aktualisierungen versehen. Unter der stets vorwärts treibenden Leitung von William Kelley untermauerte der ironische, der melancholische, der wütende und auch duchdrehende Ton die Inszenierung bestens und wurde so ein maßgeblicher Teil von ihr. Viel Beifall im ausverkauften Haus.
- Weitere Aufführungen: 31.10., 11., 23., und 26.11., 3., 15.,23.,25., 29. und 31 12. (15 und 19 Uhr)
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