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Hans Werner Henze hatte 1994 bei der Münchener Biennale Vladimir Tarnopolskis eindrucksvolles Orchesterwerk „Der Atem der erschöpften Zeit“ kennengelernt und daraufhin dem Komponisten vorgeschlagen, eine Oper nach einem Text von Tschechow zu schreiben. Henze ahnte verwandte Atmosphäre. Tarnopolski befolgte den Vorschlag – und zugleich hintertrieb er ihn. Denn was herauskam, war keine Tschechow-Vertonung. Der bildet nur so etwas wie einen strukturellen Hintergrund. Tarnopolski schrieb ein Musiktheaterwerk über das, was ihn schöpferisch am meisten bewegt: das Abdriften der Gesellschaft in immer unpersönlichere Regionen, hin zu ihrer Erstarrung und zum Stillstand – „Wenn die Zeit über die Ufer tritt“. Es wurde die interessanteste Oper der diesjährigen Biennale (über die weiteren Arbeiten wurde in der letzten nmz berichtet).
Tarnopolski reagiert mit schmerzlicher Sensibilität auf den Verfallsprozeß des menschlichen Zusammenlebens. Alles, was Natur war, erkaltet über die wissenschaftlich-technische und auch über die künstlerische Aneignung. Was Besserung verspricht, führt in Regionen der Kontaktlosigkeit. Die hochgelobten Unterhaltungs-, besser Entertainments-Werte von Video oder Computeranimation treiben den Menschen in die Vereinsamung, in die Kommunikations- und Kontaktunfähigkeit. Zugleich ist der Prozeß nicht rückführbar ins nur scheinbar bessere Alte. Die Zeit ist nicht reversibel, sie tritt über die Ufer.
Drei Szenen, im Grunde Standbilder, schildern diesen Prozeß: Tschechows „Drei Schwestern“ sind hierzu Leitfiguren, die menschliches Miteinander in Vergangenheit (zu Tschechows Zeit), Gegenwart und Zukunft verkörpern. Dieser zeitlichen Disposition entsprechen Liebe und Leidenschaft, Kunst und schließlich die Erstarrung im Tod. Die in kammerorchestralen Klang und Streichtrio aufgebrochene Musik vollzieht diese Bewegung ebenso mit, wie die Art des meist im Ensemble gesetzten Singens: von Arioso-Ansätzen über konsonantische Verfremdung bis zur vollständigen Zerstückelung der Sprache. Gleichermaßen wandelt sich die rein musikalische Syntax, die sich von warmem Klang ausgehend mehr und mehr zermürbt. Der Streichtrio-Satz etwa verbleibt am Schluß einzig als leerlaufendes Räderwerk, das hektisch in rasenden Stillstand gerät – eine Informationsfülle, deren Partikel aber nichts mehr an Botschaft übermitteln. Maultrommeln setzen danach beinern bleich die Akzentfolgen fort. All dies sitzt tief, jeder begreift spontan. Auf einer Podiumsdiskussion während der Biennale hatte Wolfgang Rihm klug eindringlich darauf verwiesen, daß ein Komponist beim Schreiben einer Oper „einfacher differenziert“ vozugehen habe. Jegliche Überfrachtung schlägt ins Unverständnis zurück.
Tarnopolski hat diese Erkenntnis (sie ist kein Geheimnis, wird aber dennoch allzu oft im schöpferischen Botschaftsdrang mißachtet) radikal umgesetzt. Sie meint ja nicht die Versimplifizierung der Mittel, sondern stellt die vielleicht weit größere Aufgabe, mit Reduziertem, Überschaubarerem ebenso sensibel differenziert zu agieren. Hierfür hilft nur eine fein ausgeprägte Musikalität. Und Tarnopolskis Klang hier ist schillernd wie ein Chamäleon. Er weiß von spätromantischer Welt, lebt sich ein ohne krud zu zitieren. Er spielt dann mit minimali-stischen Versatzstücken, mit solchen aus Pop und Avantgarde und impliziert im Verweis darauf die Kritik daran, schließlich destruiert er sich selbst. Stets erzwingt die Musik dabei den Eindruck, daß sie von überlegen höherer Warte ihr Erklingen reflektiert – nicht nur erkennend, sondern auch, was wichtiger ist, sinnfällig vollziehend.
Zum Kühnsten des Projekts gehört, daß Tarnopolski – im Grunde völlig logisch, ja selbstverständlich – drei Mal das Gleiche, die nämliche Struktur und den formalen Bau, komponiert. (So, als würde ein Entwurf in Holz, Beton oder in Stahl und Glas verwirklicht). Nur die zeitlichen Perspektiven, die Mittel der Darstellung, die klanglichen Außenseiten ändern sich. Und dennoch, ja gerade deswegen, wird das Fatale des Prozesses drastisch erfahrbar und miterlebbar. Tarnopolski gelang eine Musiktheaterkonzeption, die viele Fesseln sprengt und zu neuen Ufern – dies freilich impliziert der Titel nicht – führen könnte. Weniger zufrieden konnte man mit der Aufführung sein. Musikalisch (Leitung: Ekkehard Klemm) wurde eine solide Leistung erbracht, die drei Schwestern (Hlin Pétursdóttir, Christine Akre und Eleanor James) hielten ihrem ausführlichen Part gut Stand. Doch Peer Boysens Inszenierung – die Tatsache eingerechnet, daß sich Uraufführungen kaum inszenatorisch profilieren können – ließ doch arge Mängel erkennen. Muß man wirklich so in der Mottenkiste der Regierequisiten kramen? Was da an Land gefördert wurde, war im wesentlichen kreuzbieder und abgegriffen. Mit solch leichter Hand, mit der Boysen die Vorlage kaum mehr als verdoppelte, wurde das Stück wirklich nicht geschrieben.
Ein Gutes freilich hat auch dies: Weitere Bühnen sind gefordert, dieses prall mit Musik gefüllte Stück, das so viel über unsere existentielle Situation deutlich macht, auf ihren Spielplan zu setzen – mit tiefer reflektierender Inszenierung. Eine Erfolgsgarantie – auch für ein Avantgarde-ungewohntes Publikum – kann gegeben werden.