Zum verspäteten Auftakt gab es eine legendäre Spülung, einen strahlenden Moment der Theatergeschichte. Zwar hatte Arthur Schnitzler (1862–1931) seinen „Reigen“, diese zehn erotisch-sexuellen Dialoge, bei denen jeweils ein Partner wechselt, als Komödie deklariert. Doch war dem Autor ein ziemlich ungemütliches und bitteres Lustspiel gelungen. Erst 1921 – nach der Revolution und ein Viertel Jahrhundert nach der Entstehung – konnte es erstmals in Wien gegeben werden.
Erwartungsgemäß zettelte die politische Rechte Randale an. Einer von deren Stoßtrupps drang nach der dritten Szene, die durch einen Stinkbombenwurf unterbrochen wurde, ins Parkett ein, überrannte den wachhabenden Polizeikommissär Dr. Müller und dessen Männer. Die selbsternannten Moralwächter mischten das Publikum handgreiflich auf, bis die Ordnungskräfte – rasch unterstützt von der Feuerwehr – die Eindringlinge mit dem scharfen Strahl aus den Hydranten zum Theater hinaus fegten.
Schnitzler, als Arzt mit dem Wiener Unterleib beiderlei Geschlechts vertraut, ein Schriftsteller mit Faible fürs Un(ter)bewusste im Sinn der Psychoanalyse, hatte das alltägliche Paarungsverhalten in der k.&k. Monarchie nicht nur sorgfältig belauscht und die Beobachtungen zu einem elegant-brisanten Theaterstück verdichtet. Dessen Beziehungsdialoge sagen viel über das asymmetrische und deformierte Verhältnis der Geschlechter zu einander aus, lassen so gut wie nicht an der voyeuristisch zu goutierenden Mechanik des Puderns teilhaben lässt. Der erzkonservative Hugo von Hofmannsthal attestierte Schnitzler: „Ihr bestes Werk, Sie Schmutzfink“. Wie viele andere Werke der Weltliteratur ereilte auch den „Reigen“ das Schicksal, Oper werden zu müssen – bereits 1982 in Florenz mit Fabio Vacchis Vertonung, 1993 dann mit Philippe Boesmans ziemlich viel gerühmter und gespielter Brüsseler Version – und jetzt, zur Eröffnung der Schwetzinger Festspiele, mit einer neuen Arbeit des österreichischen Komponisten Bernhard Lang zum alten und ewig neuen Thema. Michael Sturminger kürzte den Komödien-Text ein und kondensierte ihn in zehn Szenen zu jeweils zehn Minuten, nahm dabei auch Modernisierungen vor. Deren Sinnhaltigkeit besteht darin, dass aus dem Grafen ein Banker wurde und aus dem „süßen Madl“ ein Schulmädchen (der Fortschritt hält sich mithin in Grenzen).
Der Auftraggeber und Regisseur des neuen „Reigen“, Georges Delnon, ließ, einer seit den 80er Jahren probaten Regiepraxis folgend, die klassische Anordnung von Bühne und Parkett umdrehen – sinnbildlich dafür, dass es sich um den Blick auf eine „verkehrte Welt“ handeln soll. Die Zuschauer wurden also auf eine provisorische Tribüne verbannt, mit der Orchestergraben und Bühne überbaut wurden. Die Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart und der SWR-Big Band, vorzüglich präzise angeleitet von Rolf Gupta, sitzen in der Dämmerung der Logen des ersten Rangs, etliche Monitore auf ausgesuchten Plätzen des Parketts. Zwischen diesen mit Schriftzügen und Landschaftsbildern, unfallträchtigen Autofahrten und Autoskootern illuminierten Bildschirmen versieht eine Matratze in wechselnden Positionen ihren Grundlagendienst fürs Immergleiche – in zehn Varianten. Die elfte gibt’s vorab, als wüsste man nicht, worum es hier geht. Ein unbekleidetes Statisten-Pärchen führt im Hintergrund exemplarisch vor, dass es hier im Kern um nackte Fleischeslust geht. Allerdings in unterschiedlichen verbalen Verpackungen, Kostümierungen und Entblößungsgraden. Der „Reigen“ verläuft in konsequenter Weise variantenreich und bietet punktuelle Zusammenkünfte von der eiligen Direktheit des verheißungsvoll potenten Polizisten bis zur anfänglich verdruckst en Verhaltung oder der Vorbereitung des singulären ehelichen Verkehrs durch einen lauernden Diskurs über die vordem gemachten oder eben angeblich nicht gemachten Erfahrungen.
Der Komponist Bernhard Lang schuf auf der Textgrundlage des einst heiß umstrittenen Schnitzler-Stücks polyglotte Theater-Musik. Sie wirkt ‚beredt’ – und in diesem besonderen Fall ausgesprochen diskursiv. Unverwechselbare Kennzeichen der Langschen Partituren sind, wie bereits beim „Theater der Wiederholungen“ (Graz 2003), bei „I Hate Mozart“ (Wien 2006) und „Montezuma – Fallender Adler“ (Mannheim 2010), die Wiederholungen von Satzteilen und musikalischen Partikeln, die allemal bei der zweiten oder dritten Wiederkehr variiert werden. Das Verfahren verweist auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze: Indem es die theatralen Subjekte dekonstruiert, bringt es die Erzählformen durch die Repetitionen zum Stottern. Zugleich reagiert die mit elektronischen Mitteln operierende Komposition auf mediale Muster, die die Wahrnehmung der althergebrachten Wiederholung als zugleich kommunikatives und ästhetisches Mittel ins Bewusstsein heben: die „verhackstückten“ Texte entwickeln neue Subtexte.
Dem oralen und szenischen Variantenreichtum der Akte entspricht jener der musikalischen Intonationen: Alles mögliche „Halbseidene“ aus der Unterhaltungsmusik der 20er, 50er oder 60er Jahre findet sich integriert – tändelnde Cha-Cha-Cha-Grundierung oder Anklang an die Hammondorgel, Bordunbässe aus der älteren Musikgeschichte und einige Passagen, die offensichtlich als ausgesprochen „öde“ konzipiert wurden. Naturalismus der Liebesakt-Darstellung à la „Rosenkavalier“ oder „Lady Macbeth von Mzensk“ findet nicht statt. Gerade in der partiellen Sparsamkeit der Mittel zeichnet sich die „Reigen“-Musik von Bernhard Lang gegenüber der opulenteren postmodernen Orchestralik von Philippe Boesmans aus. Almerija Delic als Prostituierte und Cornel Frey eröffnen den Reigen eines insgesamt gut besetztes Sänger-Teams, dem auch entschiedener Körpereinsatz zugemutet wird. Obwohl es sich bei der Schwetzinger Uraufführung um die bislang modernste und angemessenste Opern-Adaption des Schnitzler-Stücks handelt, blieb die Publikumsreaktion eher verhalten. Für die einen mag das Sujet immer noch igittigitt sein, andere hätten eine zeitgemäßere Literaturvorlage für eine bessere Grundlage erachtet – einen moderneren Text, z.B. auf der Augenhöhe von Michel Houellebecq.