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Jüngere, noch unbekannte Musiker statt großer Namen heranzuziehen lautet der Wandel im Konzept des Festivals „musiksommer“ im schweizerischen Gstaad, seitdem der Gründer des Festivals, Lord Menuhin, den Taktstock an Gidon Kremer übergeben hat. Einer der Hauptsponsoren des Festivals, die Credit Swiss Private Banking, wollte dem neuen Leiter zur Begrüßung ein “klingendes Geschenk“ machen, und Kremer schlug den 1955 geborenen Leonid Desjatnikov für einen Kompositionsauftrag vor.
„Wie der alte Leiermann“ heißt das Werk für Violine und Klavier, das in der Kirche von Saanen von Gidon Kremer und dem Komponisten am Flügel uraufgeführt wurde. Es ist eine Art Variationensatz über das letzte Lied der „Winterreise“ als Tribut zum Schubert-Jahr. Der Uraufführung war eine öffentliche Hauptprobe vorausgegangen. Die Selbstdarstellung, die im anschließenden Pressegespräch von ihm erwartet wurde, war dem Komponisten offensichtlich peinlich. „Die Arbeit ist mir sehr schwer gefallen“ war alles, was er von sich aus dazu sagen wollte. Bei dieser Komposition denke er an all die Musiker, die ihr Geld unter entwürdigenden Umständen auf der Straße und in U-Bahn-Stationen verdienen müßten. Er fühle sich mit ihnen verbunden, egal, wie gut oder wie schlecht sie spielten. Aber nicht selten wären diese Musiker hoch begabt und erstklassig ausgebildet.
Bei der Vorstellung des Themas vereint ein Akt der Bogenakrobatik Bordun, Leiermotiv und Melodiefloskel in der Geigenstimme. Pendelnde Klavierakkorde schieben sich wie ein fremdartiger Keil dazwischen, so als wollten sie, wenn auch sanft, so doch nachdrücklich etwas dagegen einwenden, etwas richtigstellen. Mal in abrupten Stimmungsumschwüngen, mal in fast unmerklichen Schritten metamorphosierend scheint dieses Stück seinen Gegenstand aus den verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. Es läßt an die Polystilistik eines Alfred Schnittke ebenso denken, wie an die rhythmische Atavistik eines Aram Chatschaturjan mit Akkorden, die wie Konzentrate die Klangwelt des Schubert-Liedes in sich einschließen. Idyllen mit der ausgedünnten Klangsinnlichkeit eines Arvo Pärt brechen sich an Zerrbildern und kaleidoskopartigen Überlagerungen von melodischen Geweben, Momenten, in denen sich die Motivik verdichtet, als wollte sie einem den Hals zuschnüren.
„Wie der alte Leiermann“ konnte Laien begeistern ohne Fachleute zu langweilen; eine Musik, die die Ungereimtheiten des Lebens in sich abbildet und sich trotzdem eine heilsam-verklärende Liebe zur Welt bewahrt: In zartesten, fauxbourdonartigen Mixturen über dem wohlabgestimmten Klavierklang läßt sie den unvergleichlichen Kremer-Ton hören, ein Ton, der ganz fein bis an die Wurzel des Seins zu dringen scheint, von dort innige Lebensfreude stiftend.