Unter dem Motto „Trendsetter“ stellte man bei den 26. Magdeburger Telemann Festtagen den noch immer unterschätzten Reinhard Keiser (1674 bis 1739) und Georg Philipp Telemann (1681 bis 1767) gegenüber. Spannend ist das, weil Georg Philipp Telemann aufgrund guter Gene bis in die frühe Mozart-Zeit hineinkomponierte und damit in Hamburg das kompositorische Potenzial des zu Lebzeiten hochgelobten Keiser aus Teuchern weiterentwickelte. Die Produktion des Theaters Heidelberg gastierte nach Wiederentdeckung von Keisers „Nebucadnezar“ für die Hamburger Gänsemarktoper (1704) zum Winter in Schwetzingen 2023/24 am 15. März ins Opernhaus Magdeburg geholt. Das Publikum jubelte.

Keisers „Nebucadnezar“ bei den 26. Magdeburger Telemann Festtagen. Foto: © Susanne Reichhardt.
So toll trieben es die alten Babylonier:innen – Keisers „Nebucadnezar“ bei den 26. Magdeburger Telemann Festtagen
Je mehr bislang unbekannte Opern auch von Reinhard Keiser und Christoph Graupner wiederentdeckt werden, desto mehr bestätigt sich: Die Hamburger Oper am Gänsemarkt war eine Glückskonstellation des Musiktheaters wie später die Opéra comique in Paris um Auber, Boieldieu und Adam oder die Berliner Krolloper. Zeitgeist, künstlerische Impulse, eine günstige Konstellation zwischen Angebot und Akzeptanz sowie eine enorme Kreativität machten Erfolg, auch im 1704 uraufgeführten „Nebucadnezar“ von Reinhard Keiser. Satte wie kurzweilige Ensemblesätze und die gestisch überaus bewegten Arien sind ein äußerst dynamisches Stimm- und Darstellungsmaterial. Und die temporeiche Spielvorlage tut einen burlesken wie bitteren Blick in die Menschenseele. Keisers Textdichter Christian Friedrich Hunold aus Wandersleben setzte lieber geschliffene Gefühls- und Intrigen- als Rachetiraden.
Rauchen im monarchischen Prunkbett des Königspaars ist auch bei dessen geöffneten Vorhängen erlaubt. Das Grundnahrungsmittel Sekt fließt in Strömen und inspiriert zu Verwegenheiten. So war es für die Spitzen der Gesellschaft im alten Babylon, will man Felix Schrödingers Regie und den prima Fashion-Victim-Kostümen Pascal Seibickes in dessen lila Schachtelraum glauben. Nur der assyrische König Nebucadnezar vegetiert bei fortgeschrittener Oper im Rollstuhl, indes seine Frau Adina eine heiße Affäre erhofft und die Familie in ein turbulentes Hickhack um Liebe und Macht verstrickt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Statt Smartphones schwingt man Sektkelche und Zigaretten, wird man vorrangig aus Triebhaftigkeit, Leidenschaft und Eifersucht handgreiflich. Die Politik und das Landeswohl geraten dabei etwas aus dem Blickfeld. Ein kurzweiliges, rasantes Stück und dramatisch dicht gewirkt durch mehr aus dem Alten Testament bekanntes Personal wie Nabucadnezars Sohn Beltsazer, den eigentlich feindlichen König Darius und den Propheten Daniel.

Keisers „Nebucadnezar“ bei den 26. Magdeburger Telemann Festtagen. Foto: © Susanne Reichhardt.
Wenn der fast heldisch timbrierte Koloraturbariton Florian Götz in der Titelpartie zu singen beginnt, tut er das intensiv. Keiser legte seiner Titelfigur rhetorisch und motorisch bezwingende, von Götz mit Energie und Geschmeidigkeit ausgeführte Arien in den Mund. Sein Part und alle anderen sind bemerkenswert abwechslungsreich in den Formen. Die Da-Capo-Arie ist nicht die dominierende, sondern ein Nummerntypus unter vielen. Auch in der von Keiser kurzfristig für die Starsängerin Christine Pauline Kellner eingefügte Partie der machtgierigen und wie ihre Tochter auf den persischen Verbündeten Darius scharfe Adina rollen die Koloraturen und gleißen Phrasen. Hélène Walter ist frauliche Lava, coole First Lady und vokales Kristall.
Außer den bisher genannten wirken mit: Die von der Mutter Adina aufgrund gemeinsamer paralleler Interessen kurzweilig gemeuchelte Barsine (Theresa Immerz) und die mit Nebucadnezars Sohn Beltsazer (Stefan Sbonnik) in Seelen- und Kantilenenharmonie glückhaft vereinte Cyrene (Sara Gouzy). Darius, das Zentrum der Begierde, war bei der Uraufführung mit Mezzosopran besetzt. Hier ist der mit Weichheit und imponierender Höhensicherheit begabte Countersopran Dennis Orellana erotisches Magnetfeld wider Willen und gibt ein für seine Sängerzukunft großartiges Versprechen. João Terleira als Prophet Daniel, Franko Klisović als Daniels Gefährte Sadrach und Christian Pohlers als bedächtiger Warner Cores sind Repräsentanten ethisch korrekten Tuns und haben deshalb eher reduzierte Mitsprachemöglichkeit. Mehrfach geht ein Engel durch den Raum. Eine Madonnenfigur und die Opferhaltung Nebucadnezars verweisen das in der alttestamentarischen Chronologie noch etwas ferngerückte Nahen des Erlösers, was die entflammten Babylonier:innen bei ihren Rankünen nicht weiter stört. Der Prophet wird genotzüchtigt mit in Wassereimer getauchtem Kopf. Die Posen der Reichen und Schönen hier reichen locker für eine ganze Netflix-Staffel schlichteren Zuschnitts. Das 320 Jahre nach der Uraufführung noch immer beträchtliche dramatische Potenzial der Oper „Nebucadnezar“ steht außer Zweifel.

Keisers „Nebucadnezar“ bei den 26. Magdeburger Telemann Festtagen. Foto: © Susanne Reichhardt.
Nur war Dorothee Oberlinger trotz Beistand durch Axel Wolf an der Barockgitarre und Gerd Amelung am Cembalo mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg nicht ganz so glücklich wie mit ihrem eigenen Ensemble 1700. Die instrumentalen Energien waren im Orchestergraben nicht ganz so ausgeprägt, wie es für die in Keisers Oper dargestellten kriminellen Energien nahelegen. Das lag gewiss am Transfer der Produktion von der konzentrierenden Intimität des Schlosstheaters Schwetzingen in die brillante Glätte und weitaus größere Raumdimension des Magdeburger Opernhauses. Oberlingers Stärke war auch hier zu hören: Für die Übereinstimmung von Komposition, Gestus und Vokalität besitzt sie außerordentliche Sensibilität.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!