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  Gerard Quinn (Marcello), Iurie Ciobanu (Rodolfo), Changjun Lee (Colline)  Foto: Olaf Malzahn

Gerard Quinn (Marcello), Iurie Ciobanu (Rodolfo), Changjun Lee (Colline). Foto: Olaf Malzahn

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Spaß, Spannung und Trauer: Puccinis „Bohème“ am kalten Kamin in Lübeck

Vorspann / Teaser

Es scheint ein Erfolgsmodell zu werden: Lübeck hat in dieser Saison gleich zweimal erprobt, erfahrene Opernsängerinnen inszenieren zu lassen. Brigitte Fassbaenders sehr schlüssige „Elektra“ liegt gerade einmal drei Monate zurück, jetzt wurde, am 26. April 2024, die Sopranistin Angela Denoke für ihre Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Bohème“ lang anhaltend gefeiert. Was beide auszeichnete, war ein hohes musikalisches Niveau und daneben die in sich geschlossene Bühnenschau, die bei der „Bohème“ noch überraschen konnte. 

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Nachdenken dürfte gleich das riesige Exemplar von einem Kamin verursachen, das Timo Dentler und Okarina Peter aufstellten. Sie beide waren schon mehrmals gemeinsam für Bühne und Kostüme in Angela Denokes Produktionen verantwortlich. Dieser Kamin nun beherrscht die Bühne und zitiert in seiner antikisierenden, aber kalten Pracht vieles, auch das Grundthema des Librettos, den Wunsch nach Wärme und Liebe. Er wird damit ein großartiges Symbol für das, was die Künstlerkommune sucht. Zudem passt er in den ersten beiden Szenen großartig zu der Situation. Im ersten wird jedes Heizen in dem riesigen Feuerloch zum vergeblichen Tun, lässt auch den Blick über schneebedeckte Dächer nicht vermissen. Im zweiten, jetzt Drehpunkt im Quartier Latin, mutiert der Kamin zu einem Portal, um und unter dem sich die Besucher des Marktes sammeln. Nur spenden auch das turbulente Treiben und die divergente Öffentlichkeit keine Wärme. Für das folgende Bild, die Wirtshausszene an der Barrière d’Enfer, ist die Rückwand auf der Bühne nach vorn gedreht. Man blickt auf eine Ruine, deren Backsteinformat das Mittelalter zitiert. Ein Schelm, wer das mittelalterliche Lübeck darin vermutet. Das vierte dann, eigentlich ganz in der Dachmansarde verankert, ist merkwürdigerweise auf zwei Orte verteilt und wird anfangs vor dem Vorhang spielt. Dieser neutrale Hintergrund aber mag sich mit den charaktervollen Räumen der anderen Szenen nicht zu einer sinnvollen Einheit verbinden. Erst wenn die Mansarde sich öffnet, ist der Zuschauer wieder im Geschehen. 

Zeit

Zeitlich ist das Geschehen durch die fantasievollen, teils bunten Kostüme in fernerer Vergangenheit angesiedelt, wozu auch dieser Kamin wunderbar passt. Er erlaubt zu vermuten, dass auch die Künstlerclique einst bessere Quartiere hatte, was Einzelnes wie vor allem des Philosophen Collins Mantel untermauert. Es bestätigt auch die Vermutung über das individuelle Alter der Gruppenmitglieder, die in der Lübecker Inszenierung zwar ein quicklebendiger, dennoch nicht mehr ganz taufrischer Typenhaufen ist. So ist Rodolfo der Zweifel an Jugendfrische von der Maske ins Gesicht gemalt, obwohl Iurie Ciobanus prachtvoller und wendiger Tenor, er ist der einzige Gast, immer wieder alle Höhen unangestrengt erklimmt. Das setzt einen eigenwilligen, aber doch sinnvollen Kontrast, weil diese Mimì einmal nicht von Anbeginn als Schwindsüchtige gezeichnet wird. Evmorfia Metaxaki darf dagegen eine lebendige, lebensfrohe Blumenstickerin sein, der erst ganz zum Schluss die Kräfte fehlen. Wie sie in dieser Inszenierung stirbt, ist grandios erdacht, kann aber nur einer Sängerin mit so schmeichelnd schönem Stimmklang und einer solchen selbstbewussten Ausdruckskraft im Spiel abverlangt werden.

Geschehen

Lübeck besetzt ebenfalls das Gegenpaar sehr stimmig. Denn Musetta, der Natalia Willot eine ansehnliche Erscheinung und eine glänzende Stimme gibt, ist hier nicht so verspielt, dass sie zur bloßen Schablone eines leichten Mädchens wird. Sie und der gesanglich in seiner Vielseitigkeit immer wieder überraschende Bariton Gerard Quinn bewahren dieses Paar vor allem Kokottenklamauk, weil er, der Maler Marcel, in dem Künstlerkreis mit Würde um seine alte Liebe ringt. Auch die beiden noch fehlenden Bohèms kann Lübeck charaktervoll besetzen. Den Schaunard, den Musiker, singt und spielt Jacob Scharfman mit seinem klaren und weittragenden Bariton. Und Philosoph Colline bekommt durch Changjun Lee einen Bass von Gewicht, der dessen Mantelopfer zusätzlich adelt. Wäre noch einer zu nennen, dem Komik immer wieder gelingt, mit Würde zu mischen. Es ist Steffen Kubach, der Bariton, dem deshalb gleich zwei Rollen anvertraut sind, die des Benoits und die des Alcindoro. Das passt, wird er doch in der ersten Dachbodenszene besonders wegen seines Fremdgehens gefoppt, worauf er sich in den beiden Folgeszenen düpiert an Musetta versuchen kann. 

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  Steffen Kubach (Benoît alias Alcindoro), Iurie Ciobanu (Rodolfo), Evmorfia Metaxaki (Mimì), Jacob Scharfman (Schaunard), Changjun Lee (Colline), Natalia Willot (Musetta), Gerard Quinn (Marcello)  Foto: Olaf Malzahn

Steffen Kubach (Benoît alias Alcindoro), Iurie Ciobanu (Rodolfo), Evmorfia Metaxaki (Mimì), Jacob Scharfman (Schaunard), Changjun Lee (Colline), Natalia Willot (Musetta), Gerard Quinn (Marcello). Foto: Olaf Malzahn

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Solche Massenszenen wie die zweite sind für kleinere Bühnen immer ein größeres Problem. Dafür fand Angela Denoke mit ihrem Team (Choreografie: Fabio: Toraldo) in der Drehbühne unter dem Kaminportal einen sinnvollen Helfer, der die gerade Agierenden in die Nähe der Rampe brachte, den Kinderchören von Vocalino und Musik- und Kunstschule. Das wirkte lebendig, ohne die Gruppen statisch abzusetzen. Und das klang voll und rund (Chor: Jan-Michael Krüger, Kinderchöre: Gudrun Schröder), half den Gruppen, die nicht den ganzen Raum beschallen mussten. 

Alles wäre verlorene Liebesmüh, wenn das Orchester nicht gleichwertig wäre. Aber auch damit kann die Aufführung punkten, denn Stefan Vladar führte seine Philharmoniker sehr empfindsam, ließ den Stimmen Zeit und Luft zum Mitatmen. Spaß, Spannung und Trauer verbanden sich hörenswert.

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