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QUAI OUEST. Photo: © Alain Kaiser
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Spitzenkräfte für das falsche Produkt – Die Uraufführung von Régis Campos „Quai West“ in Strasbourg

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Um den Theaterdichter und Schriftsteller Bernàrd-Marie Koltès (1947–1989) ist es still geworden. Es hängt mit dem natürlichen Alterungsprozess von Leserschaft und Publikum zusammen, dass für Autoren aller Arten spätestens ein Viertel Jahrhundert nach deren Tod das Fortdauern der Rezeption zum Problem wird. Das Œuvre von Koltès, der – gefeiert und verachtet, gepusht und bekämpft – im April 1989 im Alter von nur 42 Jahren an Aids starb, steht jetzt an dieser kritischen Schwelle. Der Regisseur Kristian Frédric und seine Assistentin Florence Doublet wollten etwas gegen die Gefahr der Ausmusterung unternehmen und adaptierten eines der knallharten Koltès-Stücke für die Bühne.

Dabei liegt die Frage auf der Hand, ob sich ausgerechnet das 1985 im Publiekstheater Amsterdam uraufgeführte Stück „Quai Ouest“ als Vorlage für Musiktheater eignet. Die Antwort lautet: Im Prinzip durchaus, aber ...

Der 1968 in Marseille geborene Régis Campo hat das Risiko nicht gescheut, auf eine „sperrige“ Vorlage zurückzugreifen. In einem Gespräch zur Premiere seiner zweiten Oper, die von der Opéra National du Rhin in Strasbourg in Auftrag gegeben wurde, unterstrich der Komponist, dass ihn nicht zuletzt eine im Text nur subkutan anzutreffende, im Leben von Koltès und vielen anderen Künstlern allerdings virulente Problematik interessiere: die von Homosexualität und Künstlerschaft. In „Quai Ouest“ geht es freilich nicht nur vordergründig um anderes: Um die Suizidabsichten des in größte finanzielle Bedrängnis geratenen Industriellen Maurice Koch. Obwohl ihn, von dessen Persönlichkeit die Zuschauer so gut wie nichts erfahren, die Begleiterin Monique (die noch rätselhafter bleibt) zu halten sucht, will er sich um jeden Preis aus der für ihn so unwirtlich gewordenen Welt davon machen. Die sehr übersichtlich gewordene Restmasse seines Besitzes vermacht er Charles – und erwartet im Gegenzug Hilfestellung beim letzten Abtauchen.

Szenisch geht es in ein Niemandsland. Einer der Schlüsselsätze: „Hier gibt es nichts mehr, nicht den kleinsten Traum“. Kochs Auftauchen in der stillgelegten Lagerhalle, die insgesamt die Handlung rahmt, löst bei den scheinbar zufällig am unwirtlichen Ort sich einfindenden Paaren und Passanten eine Kettenreaktion von grenzwertigem oder kriminellen Verhalten aus. Da es sich bei diesen Leuten, wie sich nach und nach herausstellt, überwiegend um Angehörige der Familie von Charles handelt, eröffnet sich mit dem kalten sozialen Realismus der Textvorlage ansatzweise eine Familienanamnese mit Migrationshintergrund. Auch Abad, der dunkelhäutige dienstbare Geist des Familienoberhauptes Rodolphe, bleibt nicht anders als die andern im Stimm-Oktett eine hinsichtlich der Herkunft und sozialen Einbindung dunkle Figur. Er ist ein Mann ohne jede Aussichten. Nötigung, Raub und Tötungen ergeben sich in diesem suburbanen Milieu scheinbar wie selbstverständlich.

Die von Koltès angerissene Thematik erscheint fortdauernd brisant. Auch wenn die ihr zugesellte Sprache teilweise an Jean-Paul Sartres Existentialismus anknüpft, könnten die Denk- und Verkehrsformen der Familie von Charles auch heute anzutreffen sein. Im Vergleich zur zuletzt uraufgeführten großformatigen französischen Oper, Marc-André Dalbavies „Charlotte Salomon“ (Salzburg, Juli 2014), verfolgt Campo ansatzweise eine modernere Intentionen: Während Dalbavie nochmals ein Holocaust-Sujet bemühte, rückt die Oper „Quai Ouest“ um einige Jahrzehnte auf die Gegenwart zu. Gut singbare melodische Linien, die Grundtöne eines auf schärfere musikalische Konturen und dramatische Pointierung verzichtenden postmodernen Orchestersatzes ergeben im einen wie im anderen Fall eine pflegeleichte „Singespiel“-Partitur und einen „Wärmestrom“ des Sounds, der in absurdem Widerspruch zur Handlung steht. Denn die kennt keinen Hauch von Idylle und verhält sich kalt(blütig).

Klingt Dalbavies „Spektralmusik“ selbst an dramatischen Wendepunkten im Leben der Charlotte Salomon (wie der zur Reichspogromnacht) beschönigend, da sie der Brutalität der Handlung ausweicht, so gilt Analoges für den von allerlei Film- und Theatermusik inspirierten Tonsatz von Régis Campo: Der Liquidation des Maurice Koch und dem Mord an Charles sekundiert eine Konversationsmusik, die womöglich als Accompagment eines Marivaux-Text oder für Courtelin-Farcen adäquat erscheinen könnte. Der präzise agierende Dirigent Marcus Bosch, der für Klarheit in den seichten Gewässern Campos sorgt, hat wohl keine Mitschuld daran, dass die Musik als unzulänglich wahrgenommen wird (außer der, dass er um seiner künstlerischen Reputation willen nach Durchsicht der Partitur das Dirigat nicht zurückgelegt hat).

Leicht unregelmäßige Skalen, bevorzugt absteigend, ausladende Dreiklangsbrechungen und Terzschichtungen charakterisieren Campos Material, das die Zerklüftungen der musikalischen Moderne kaltlächelnd ignoriert (und damit auch die aufgeklärten Hörerfahrungen eines auf Innovationen erpichten Publikums). Offensichtlich gibt es bei den Auftraggebern einer solchen Arbeit keine hinreichende musikalische Kompetenz und Geschmackssicherheit, die Veto einlegen könnte gegen eine Einreichung, die gegen den Vorwurf der Verhöhnung von Opern nicht gefeit ist: Campos macht es den Hörern recht nett, schön und weichgespült, auch wenn auf der Bühne Claire, die Schwester von Charles, vergewaltigt und geschlagen wird. Hendrickje Van Kerckhove bestreitet die Partie der brutal geschändeten, gedemütigten und traumatisierten Minderjährigen fulminant. Die schließlich in anrührender Hilflosigkeit an den großen Bruder adressierte große Liebeserklärungsarie gelingt ihr mitleidheischend. Mit Paul Gay, Mireille Delunsch und Marie-Ange Todorovitch werden auch in kleineren Rollen Spitzenkräfte des französischen Musiktheaters aufgeboten. Aber eben für das falsche Produkt.

Der Inkompetenz der Komposition korrespondiert die der Inszenierung. In der Andeutung einer grau-öden Lagerhalle aus der Erbmasse des späten 19. Jahrhunderts, zwischen wechselnden und gelegentlich verrückten Treppen- und Wandelementen wird die Handlung auf schlicht-naive Weise „umgesetzt“. Den zerrütteten, halt- und hemmungslosen menschlichen Existenzen, die Koltès zu Wort kommen ließ, wird der Blick ins traumhaft schöne westliche Abendrot über den weiten Wassern eröffnet. Was ist das für ein Trost?

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