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Strauss’ „Elektra“ in Würzburg. Ensemble. Foto: Nik Schölzel.

Strauss’ „Elektra“ in Würzburg. Ensemble. Foto: Nik Schölzel.

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Sternstunde traumatisierter Frauen: Strauss’ „Elektra“ in Würzburg

Vorspann / Teaser

Bei der Vorstellung am 31. Oktober in der Theaterfabrik Blaue Halle war die originale Besetzung nach verschiedenen Krankheitsfällen und Ausfällen erstmals in einer Aufführung versammelt. Die Premiere von Richard Strauss’ Musikdrama „Elektra“ des Mainfrankentheaters Würzburg war bereits am 8. Oktober. Ein Triumph von Gästen, Ensemble und Orchester unter Leitung des sinnlich wie klug befeuernden GMD Enrico Calesso. Nina Russi findet spannend ästhetisierte Regie-Lösungen. Elena Batoukova-Kerl in der Titelpartie führt das sensationell gute Trio infernal mit Sanja Anastasia (Klytämnestra) und Ilia Papandreou (Chrysothemis) an. Ovationen.

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Wegen des Theaterumbaus im Zentrum von Würzburg zieht sich die Verweildauer des Mainfrankentheaters in der Ersatzspielstätte Blaue Halle noch auf unbestimmte Zeit hin. Aber wenigstens das Kleine Haus wird am 2. Dezember mit einem Roland Schimmelpfennig-Doppelabend wiedereröffnet und bietet Platz für alle Sparten, in den ersten Monaten vor allem mit Nachzügler-Produktionen aus Corona-Zeiten.

Unter den Ortsbedingungen der Blauen Halle war Richard Strauss’ 1909 in der Semperoper Dresden uraufgeführter Musikdrama-Koloss an der Schwelle zwischen Spätestromantik und Atonalität gewiss ein Wagnis – und gelang grandios. Natürlich passte die zwangsläufig verschmälerte Riesenbesetzung der originalen Orchesterstärke mit über 100 Positionen nicht auf die dafür vorgesehene Fläche. Ein Großteil der Bläser auf der Bühne war um den drehbaren weißen Spiel- und Raumwürfel von Julia Katharina Berndt postiert, den ein Steg mit dem Saal verbindet. Das geriet betreffend Akustik-Dramaturgie sinnfällig, weil die Figuren von Strauss’ Klängen so eingeschlossen waren wie im Kokon von Schicksal, Traumata und pervertierenden Obsessionen. Es geriet schon in den ersten Sekunden grotesk, wie die weißen Mägde der eine Etage tiefer zwischen blauen Müllsäcken vegetierenden und dafür recht eleganten Elektra Brotkrumen zuwerfen. Mykene als Ort und Metapher für den ‚Untergang des Abendlands‘: Zu Strauss’ orgiastisch-ohrenbetäubender Orchester-Apotheose tanzt nicht Elektra, aber der Würfel wirbelt im apokalyptischen Kreis, dass es allen schwindelt. Ohne Blut, Krächzen und trotzdem mit expressiver Verdichtung modellierte Nina Russi genau gezeichnete Figuren, die sich hassen und trotzdem voneinander nicht loskommen.

Die Inszenierung der jungen Schweizer Regisseurin hatte Format, Stil und Charakter für Hugo von Hofmannsthals wortgenaue Studie über das traumatisierte Frauen-Trio unter der Geißel des Atridenfluchs. Das ging in Würzburg ohne nerdige Exzesse ab. Im Gegenteil. Russi gab der nur ihren Rachegedanken und der Erinnerung an ihren ermordeten Vater Agamemnon lebenden Elektra, deren sich nach gesundem Sex und gesunden Kindern sehnender Schwester Chrysothemis sowie der psychosomatisch gepeinigten Mutter Klytämnestra ernste und sogar elegante Kontur. Welcher männliche Kollege würde sich trauen, den Mordhelfer Aegisth – Elektra begeifert ihn als „das andere Weib“ – als eleganten Jäger zu gestalten. Auch in der von Strauss mit süßer Sinnlichkeit komponierten Erkennungsszene von Elektra und Orest kokettiert Russi mit einem delikat bebilderten Tabubruch, wenn es zwischen Elektra und Orest fast zum zärtlichkeitsintensiven Inzest kommt. Im stark agierenden und sich topsicher durch die Partitur bewegenden Ensemble des Mainfrankentheaters finden alle Figuren die richtigen Besetzungen: Brad Cooper als auch stimmschöner Aegisth, Kosma Ranuer Kroon als markanter Orest mit suggestivem Stierblut-Blick und Mathew Habib in der Mini- und trotzdem fies komplizierten Extrempartie des Jungen Dieners. Das elegante Gesinde am Hof zu Mykene und die Kostüme verdichten die genaue Erschließung von Hugo von Hofmannsthals Text sowie die raue bis süffige Gewalt aus Richard Strauss’ fortschrittlichster Partitur.

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Strauss’ „Elektra“ in Würzburg.  Elena Batoukova-Kerl (Elektra). Foto: Nik Schölzel.

Strauss’ „Elektra“ in Würzburg.  Elena Batoukova-Kerl (Elektra). Foto: Nik Schölzel.

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Die Titelfigur ist sogar ein bisschen wie die makaber-traurige Annie Wilkes in Stephen Kings „Sie“. Dumpf-diabolisches Brüten hat sie selten, dafür aber ein scheues und fast kindliches Erinnern, Denken und Aus-der-Zeit -gleiten. Dabei ist Elena Batoukova-Kerl imposant an Gestalt und Ausstrahlung. Die Mezzosopran-Vergangenheit hört man ihr nicht mehr an. Batoukova-Kerl stürzt sich mit einem faszinierend schillernden und hochdramatisch strahlenden Sopran, mit schier unerschöpflicher Kondition und Textsicherheit in die Rekord-Partie. Aber sie ist keine Megäre, sondern trotz Rachedurst eine Frau der sensiblen Gesten und dabei ehernen Töne. Nur das „Triff noch einmal!“ spricht Batoukova-Kerl und hält wirklich allen Passagen stand, an denen sich ihre wenigen ebenbürtigen Kolleginnen schonen.

Dabei macht es ihr der auch hier sängerfreundliche Dirigent Enrico Calesso nicht immer leicht. Aber er weiß genau, bis zu welchem Punkt er bei mit Elektra in Phonzahlen-Konkurrenz gehen kann, wie weit er Ilia Papandreous Chrysothemis, eine blonde Lichtgestalt mit Goldstimme, und die immens starke Sanja Anastasia als kraftvolle wie deklamationstarke Klytämnestra fordern kann. Das Philharmonische Orchester Würzburg brandet, rauscht und verwüstet, es entfesselt Stürme und seelische Siedehitzen bis zum Anschlag. Trotzdem überwiegt das Melos der Verzweiflung. Wer sagt, dass „Elektra“ nur mit den größeren und ganz großen Musiktheater-Apparaten machbar sei? Hier kommt alles zusammen: Das Ensemble bezwingt dieses Monsterwerk fast locker, die stilisierende Inszenierung trägt ohne Temperaturverluste und das Orchester entdeckt in Strauss’ bald 114-jährigem Extremstreich mehr Sentiment als vermutet. Eine Sternstunde. (letzte Vorstellungen am Mi 22.11. und Fr 1.12.)

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