„Der Rhythmus unserer Zeit ist der Jazz”, wusste Kurt Weill bereits 1927. Wer in Europa künstlerisch auf sich hielt, stürzte sich in jenen Jahren auf alles, was an leichter Muse über den großen Teich schwappte.
Strawinsky und Hindemith spickten ihre antiromantischen, dem Weltkrieg nachlauschenden Klänge mit „Neger”-Synkopen, Maurice Ravel und Darius Milhaud ließen sich in Paris vom Sound der Musichalls inspirieren; das Lochstreifen-Klavier brachte es vom Amüsierschuppen bis in den Konzertsaal, und Ernst Krenek gelang in Berlin mit der Jazz-Oper „Jonny spielt auf” – die Hauptfigur ist ein schwarzer Geiger – ein Welterfolg. Kurt Weill und Bert Brecht kreierten den Song-Stil der „Dreigroschenoper”, der zu Weills kompositorischem Markenzeichen werden sollte. Die Festlegung auf dieses Werk wurde er auch nicht los, als er sich nach seiner Emigration in die USA mit chamäleonhafter Anpassungsfähigkeit in die dortige Musikszene einklinkte und die junge Gattung des Musicals maßgeblich weiterentwickelte.
Der aus dem anhaltischen Städtchen Dessau gebürtige Kantorensohn wollte vor allem eins: verstanden werden. Darum hat er sich im Elfenbeinturm der E-Musik nie lange aufgehalten, versuchte stets, den Nerv des jeweiligen Publikums zu treffen, wechselte die Genres „öfter als die Schuhe“ und fand nichts dabei, stilistisch ein Komponist zwischen allen Stühlen zu sein. Das war der Preis dafür, immer den Finger am Puls der Zeit zu haben, und der war damals unruhig, unangepasst, von unten gegen saturiertes Establishment und akademische Taktordnungen andrängend – eben Jazz.
Das 17. Kurt Weill Fest Dessau, das jedes Jahr eine andere Facette des Komponisten beleuchtet und damit seine Vielseitigkeit jenseits der „Dreigroschen“-Schublade unter Beweis stellen will, trug dem unter dem Motto „Round about Weill“ Rechnung. Damit sollte nicht der Einfluss des frühen amerikanischen Jazz auf das Weillsche Schaffen vorgeführt werden, sondern umgekehrt das Weiterwirken seiner Musik in aktuelle Jazz-Szenen hinein. Die entscheidende Prägung erfuhr das Festival durch seinen „artist in residence“, den schwedischen Starposaunisten und Sänger Nils Landgren. Sie zeigte sich vor allem in der Behutsamkeit, dem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Substanz Weill’scher Musik. Als Sänger brachte Landgren verschiedene Songs – sei es das berühmte, zum Jazzstandard gewordene „Speak Low”“mit innigster Intimität, der funkig gebotene „September-Song“ oder die „Klassiker“ aus „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ mit solcher Klarheit, Einfühlsamkeit und differenzierter Wortausdeutung zur Geltung, dass er damit den großen Weill-Interpreten ohne weiteres das Wasser reichen kann. Mit klangvoll-brüchiger Stimme, zwischen Samt und Sandpapier, schafft Landgren die Quadratur des Kreises eines authentisch wirkenden Weill-Stils, findet den schmalen Grad zwischen musikalischer Linie und textlich klarer Artikulation, der so oft zugunsten des einen oder anderen verfehlt wird. Den richtigen Ton trifft er, weil er weiß, was und wovon er singt, und dieser zwischen „E“ und „U“ schwankende Komponist ist darin besonders empfindlich.
Das war exemplarisch im Konzert „Landgren meets Anhaltische Philharmonie“ zu erleben, das als Konfrontation und Verschmelzung der so unterschiedlichen Sphären von Klassik und Jazz wohl den Höhepunkt der vielfältigen Brückenschläge des Festivals darstellte. „Nils Landgren & Friends“ (mit Sebastian Studnitzky, Klavier, Eva Kruse, Bass und Wolfgang Haffner, Schlagzeug) trafen hier mit der schwedischen Sopranistin Jeanette Köhn und dem von Golo Berg geleiteten großen Sinfonieorchester des Anhaltischen Theaters zusammen, das sonst die großen Opernproduktionen des Weill-Festes verantwortet. Der Punktgewinn ging an den Jazz – von Köhn sicher tadellos präsentierte Nummern wie „My Ship“ oder „What good could the moon be“ aus „Street Scene“ verdeutlichten wieder einmal, wie gefährlich geradliniger Schöngesang für Weill sein kann, da er ihm einen leicht betulichen Touch gibt, seine Modernität verleugnet. Dafür lebte die „Zuhälterballade“ – „Dreigroschen“-Duett des „Mackie Messer“ und der Hure Jenny im Tango-Wiegeschritt – gerade von der augenzwinkernden Differenz zwischen Opernpathos und Reibeisenkantilene – „das Messer ist ja typisch schwedisch“, kalauerte Landgren, als er mit Schlapphut und weißem Schal auf die Bühne kam. Landgrens virtuose und lyrische Posaunenimprovisationen rundeten die Gesangsperformance ab, erreichten ihren Höhepunkt im rein instrumentalen „Moon faced, starry eyed“ aus Weills „Oper Street Scene“ und rissen mit ihrer Beweglichkeit und Phantasie auch so manche Orchestermitglieder zu erstaunlichen Swing-Soli hin. Hier war ein vollkommenes Klang-Amalgam zwischen Sinfonieorchester und Jazz-Combo erreicht, quasi eine neue Form. Mit seiner Gruppe gab Landgren noch ein funkig-elektrisierendes und bewegendes Jazzkonzert im alten Elbewerk Roßlau, dem die schwedische Sängerin Nina Ramsby noch ein spezifisches, sehr kammermusikalisch konzentriertes Element hinzufügte, und trat als inspirierender „Special guest“ des jungen Cristin Claas-Trios aus Dessau auf, dem er schon 2006 wegweisender Mentor gewesen war.
Waren Landgrens Weill-Adaptionen von jenem Respekt vor der Originalmusik getragen, der sie eher noch zu steigern statt dem eigenen Sound einzuverleiben suchte, so wirkten manche Versionen doch eher wie ein Vorwand zur Eigenpräsentation in Dessau – beliebig etwa beim Monty-Alexander-Trio, das alles Mögliche durch die Mühle eines karibisch aufgepeppten Erroll-Garners-Sounds drehte, bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert im Elektronik-Jazz des Jasper vant’ Hoff und beim Laptop-Duo „Sapporo“, in nostalgischem Ost-Rock-Grobstrick bei der Jazzwerkstatt Friedrich Schönfeld. Die Stilkreuzungs-Experimente gingen durch alle Sparten: Opernstar Angela Denoke, sonst als Salome oder Sieglinde gefeiert, bot mit Unterstützung des Klassik, Jazz und Pop mixenden Tal-Balshai-Trios bemerkenswert „swingende“ Weill- und Friedrich-Holländer-Interpretationen; die nach New York verzogene Österreicherin Ute Gfrerer konnte sich von einem etwas bieder-affirmativen Musical-Stil nicht lösen. Den Vogel aller Chansonetten-Auftritte schoss die Norwegerin Tora Augestad ab, die 2004 beim New Yorker Lotte-Lenya-Gesangswettbewerb mit einem „Lys Symonette Award“ – gestiftet von Weills langjähriger Korrepetitorin und Vorsitzender der Weill Foundation – ausgezeichnet wurde. In rotzfrechen und zugleich hochvirtuosen halbszenischen Darbietungen vereinte sie die messerscharf klare Diktion einer Gisela May oder auch Lenya selbst mit der experimentierfreudigen Chuzpe einer Nina Hagen. Sie flüstert, stöhnt, jault und schreit den „Alabama-Song“ oder oft sehr bekannte Songs, gibt ihnen damit tausend neue Nuancen unserer Zeit und kann dann wieder nahtlos zu schönsten Soprantönen übergehen.
Weill komponierte für Musiktheater, träumte von einer modernen Oper, die die Probleme unserer Zeit wiedergibt und von den Massen verstanden wird. So durften in Dessau auch diesmal szenische Produktionen nicht fehlen: Als quietschbuntes Puppenspiel wurden die „Sieben Todsünden“ von Frank Engel wieder einmal an ihrem tieferen Sinn vorbei inszeniert; viel phantasievoller, offensiver und ganz ohne moralischen Zeigefinger gelang dem Erfurter Figurentheater eine Umsetzung von Franz Kafkas „Amerika“, mit unbekannten, erst kürzlich aufgefundenen Songs des „amerikanischen Weill“ unterlegt.
Auch fünf unter dem Titel „Wachsfigurenkabinett“ zusammengefasste Einakter von Karl Amadeus Hartmann, dargeboten vom Opernstudio der Universität der Künste Berlin, passten mit ihren scharfen Rhythmen und frechen Dissonanzen gut zu den Brücken und Brüchen des diesjährigen Weill Festes, weniger das Abschlusskonzert des MDR-Sinfonieorchesters: Das Violinkonzert des US-Schweizers Daniel Schnyder verbindet Klassik und Jazz so populistisch anbiedernd, dass auf beiden Seiten Qualität verloren geht. Dass dies sonst während des gesamten Festivals nirgendwo der Fall war, zeugt vom untrüglichen Geschmacksinn des scheidenden Intendanten Clemens Birnbaum – mit seinen mutigen Grenzüberschreitungen war sein vorletztes Weill Fest eins der lebendigsten überhaupt.