Nach Nico Dostals „Prinzessin Nofretete“ wagt die Musikalische Komödie Leipzig ein nur unter Vorbehalt als Operette zu benennendes Hybridopus aus den frühen Jahren des Nationalsozialismus. Eduard Künnekes „Die große Sünderin“ gelangte am 31. Dezember 1935 an der Lindenoper Berlin mit den Stars Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge zur Uraufführung, flankiert von Richard Strauss‘ „Die ägyptische Helena“. Die beiden Partituren stehen sich in Hinblick auf süffige und hypertrophe Orchestration näher als man denkt. Die Entstehung der später kaum nachgespielten „Großen Sünderin“ war auch der Absicht geschuldet, ein systemtaugliches Musterwerk zu kreieren.
Der Fall ist sperrig. Wahrscheinlich weil Eduard Künnekes Ehefrau einen jüdischen Elternteil hatte, durfte der Komponist nur drei von acht Vorstellungen der Uraufführungsserie dirigieren. Für den Schöpfer des „Vetters aus Dingsda“ begann nach 1930 mit Titeln wie „Lieselott“ und „Lockende Flamme“ ein zweiter Karrierezenit. Matthias Kauffmann geht in seiner parallel zu den Leipziger Produktionsvorbereitungen veröffentlichten Dissertation „Operette im ‚Dritten Reich‘“ (Bockel Verlag) auf die Begleitumstände ein, nimmt Eduard Künneke als Beispiel der Zerrissenheit „Zwischen Gesinnung und Vereinnahmung“ und zitiert aus dessen Aufsatz „Zur Erneuerung der Operette“, was dieser im stellenweise grotesken ästhetischen Operetten-Spagat des Systems beizutragen hat. Die Einspielung von 1951 unter Künnekes musikalischem Nachlasspfleger Franz Marszalek mit Maud Cunitz und Rudolf Schock zeigt Bombast und Charisma dieser stellenweise gerne wagnernden Grande Opérette im Polycolor der Nierentischzeit. Deshalb hätte es in Leipzig-Lindenau das eingelegte „Tristan“-Motiv für die Eskapade von Herzogin Sybilla mit dem Reiteroberst Johann Georg von Schrenk nicht auch noch gebraucht. Das unverkennbare Zitat des „Rheingold“-Walzers aus Oscar Straus‘ „Die lustigen Nibelungen“ mit dem Klangteppich wie von Künnekes Lehrer Engelbert Humperdinck reicht.
Wie von Strauss und Schreker in gemeinsamer Likörlaune erfunden
Die Spannung in dieser Premiere, der ersten szenischen Produktion nach über achtzig Jahren, ist geballt. Denn wie laviert man sich durch den Rausch dieser Musik? Nicht nur das Liebeslied „Ich ritt und ich stritt“ beginnt im wuchtigen Marschrhythmus, endet mit einem Fortissimo-Höhenorgasmus und klingt wie von Strauss und Schreker in gemeinsamer Likörlaune erfunden. Das muss gut gesungen, ehrlich dirigiert und sollte mit sinnlicher Intelligenz gegen den Staub auf dem Textbuch poliert werden. Also Vorhang auf und ran an den Speck vom „alten indischen Märchen“, von „Stell dich ein (sic), schöne Frau in der Sommernacht“ und „Sünde!“, ja „Skandal!“ im Lustschloss Bonbonniere.
Das Textbuch von Katharina Stoll und Herman Roemmer tastet sich hölzern von einer Verwechslungs- und Flirtaktion zur nächsten. Gemessen etwa an den dramaturgischen Frechheiten der Operetten Paul Abrahams trägt die Empörungsdramaturgie über die vermeintliche Sündhaftigkeit der Herzogin Sybilla Augusta von Baden-Baden kaum. Sinnigerweise passgenau zum parallel vor Leipzig stattfindenden Hüpfburgenfestival hat Florian Parbs ein aufblasbares Lustschloss nebst Spiegel über einem Riesenbett und allerlei sich schwellkörperartig aufrichtenden Blumen davor gesetzt. Prompt zieht sich Jeffery Krueger, der als Leutnant Jürgen von Sommerfeld bei einer bewegungsintensiven Mitternachtsgymnastik mit der darauf viel gelöster singenden Miriam Neururer auf dem labilen Untergrund eine Knieverrenkung zu. Den Abend mit der etwas lauen Verwechslung zwischen der Herzogin und der ihm dann zufallenden Freifrau Jakobe schafft er trotzdem.
Zwei Chorgruppen agieren auf einer guten gemeinsamen Stimmspur (Leitung: Mathias Drechsler): Eine schwarze, knarzig-spießige der Hofschranzen, und eine bunte mit lustvoller Tollerei, die als Touristenmeute einen visionären Ausflug in die Vergangenheit erlebt. Barock, die Künneke-Zeit fürs goldig kostümierte und ebenso goldig agierende Ballett, dann die Gegenwart werden im Laufe des Abends dank der Kreationen von Rebekka Zimlich immer glänzender, gelackter und betont lüsterner. Noch bunter treibt es Anna Evans als Sohn der Herzogin und genießt es unübersehbar, als halbstarkes Flegelflittchen agieren zu dürfen. Choreograph Mirko Mahr stellt sich mit seinem diesmal ordentlich vergrößerten Corps ganz in den Dienst an der Inszenierung. Das Bemühen der im Operettenmetier bewährten Alexandra Frankmann um Charme einerseits bei der großen Sünderin, Schneidigkeit beim Schrenk und um die dem Publikum schmeicheln sollenden Witzeleien tritt in den Dialogen recht häufig auf die Bremse. Andreas Rainer und Hinrich Horn müssen als dümmliche Heiratskandidaten über die Klingen zur Karikatur springen. Der zündende Funke mag an diesem Abend, der Doppelmoral mit dem Holzhammer geißelt, nicht so ganz überspringen. Daran kann auch die mit allen Kräften ihre darstellerische Erfahrung für die angerostete Gräfin Arabella einsetzende Angela Mehling kaum etwas ändern.
Der Sieg liegt auf der musikalischen Seite. Es ist das Geheimnis von Stefan Klingele, warum seine Auslegung der musikalischen Bearbeitung von Franz Marszalek viel durchsichtiger und geschmeidiger klingt als dessen Einspielung von 1951. Das bestens aufgelegte Orchester der Musikalischen Komödie schwelgt in den leider nicht so häufigen pikanten Rhythmen der Entstehungszeit. Für den neuen Ensembletenor Adam Sanchez ist der Part des Schrenk ein Ritt über den Bodensee, den er mit Bravour attackiert und gewinnt, weil er zum Glück nicht alle Fortissimi so heraustrompetet, wie es die üppige Instrumentation eigentlich fordert. Die militaristische Prahlerei des Textbuches kontert Adam Sanchez mit persönlichem Sympathieappeal. Lilli Wünscher nimmt in der Titelrolle diese künstlerische Forderung zum Duell gerne und beherzt an. Sie stellt sich den Anforderungen dieses Divenparts und ihrem Schrenk auf sinnlicher Augenhöhe. Beide machen letztendlich doch noch vergessen, dass ihre Partien eigentlich nicht ins Feuilleton gehören, sondern in die Rubrik Hochleistungssport. Und Alexandra Frankmann müsste sich riesig über ihre beiden Protagonisten freuen, die mit Totaleinsatz aus dem groben Textfutter sogar einige Funken von lyrischem Komödiengeist schlagen. Aber niemand kann etwas dafür, dass in „Die große Sünderin“ dort mit dem Säbel gerasselt wird, wo sich Offenbachs „Großherzogin von „Gerolstein“ mit dem „Degen von Papa“ begnügt und vergnügt. Diesen Unterschied merkt man.
- Wieder am 17. & 31. Oktober, 4., 5., 18. & 19. November, 12. & 27. Dezember 2017 sowie am 10. & 11. Februar 2018 - Tel: 0341 – 12 61 261, service [at] oper-leipzig.de (service[at]oper-leipzig[dot]de)