Ein aufschlagender Tropfen verhallt in der Dunkelheit wie in einer riesigen Grotte. Hier ein Huschen, dort ein Flattern, da ein Rufen, Sirren und plötzlich Streichinstrumente. Zur mehrkanalig projizierten Elektronik erhellen aufblitzende Scheinwerferkegel nach und nach neben- und übereinander geschichtete Plateaus, bevölkert von seltsamen humanoiden Wesen. Manche verfügen über Fühler, Tentakel, Rüssel oder Schwänze. Andere haben Wülste, Schuppen, Flossen, Panzer, Blütenstengel oder neuartige Gliedmaßen ausgebildet. Die Spezies Homo sapiens ist – dank der Kostümbildnerinnen Sita Messer und Lauren Steel – zu Höhlenwesen mutiert, die sich primatenhaft „ha, he, ho, hi“ verlautbaren und bewegen.
Stephanie Thiersch und Brigitta Muntendorf konzipierten „Archipel“ ursprünglich für die Ruhrtriennale 2020. Nun wurde das Gemeinschaftsprojekt beim Düsseldorfer „Festival Theater der Welt“ uraufgeführt. Anschließend wird es beim Berliner „Festival Tanz im August“ gezeigt. Die Choreographin und Komponistin bezeichnen es als „ein Spektakel der Vermischungen“. Menschen amalgamieren sich mit Tieren oder Pflanzen. Tanz und Musik bilden neue Allianzen mit der vom japanischen Architekten Sou Fujimoto entworfenen Skulptur. Deren atollartiger Bau – eine Anspielung an Gilles Deleuzes „Mille Plateaux“? – ist Landschaftskulisse, Bühne und Musikinstrument zugleich. Die Flächen, Stützen, Membranen und Metallstäbe lassen sich zum Klingen bringen, schlagend, stampfend, reibend. Sicht- und hörbare Akteure sind die Tanzgruppe Mouvoir, das Ensemble Garage und das Asasello Quartett. Per Video und Lautsprecher zugespielt wird der Norwegian Soloists’ Choir, lemurenhaft bleich geschminkt sowie mit Geweihen und Tattoos.
Nach ruhigem Erwachen bläst vom Gipfel des Pavianfelsens ein Alphamännchen (der Trompeter) markige Signale. Dem Weckruf folgt ein animalisches Ritual. Zu permanentem Hecheln beginnt die Sippe zu wippen, sich zu reiben, zu winden, die Köpfe wilder hin und her zu werfen, endlich zu schreien. Was geht hier vor? Ein Gebet der Troglodyten? Eine kultische Handlung? Eine wilde Massenmasturbation? Zwanzig Minuten lang vollführt das Bestiarium monotone Repetitionen und rottet sich zu Kreisen zusammen. Statt als Personen mit eigenem Geist und Gefühl, agieren die Tiermenschen wie Individuen eines schwarmartigen Kollektivs, das sich immer wieder wellenartig verdichtet, pulsiert, aufschaukelt, dann wieder beruhigt und vereinzelt. Das vegetative Geschehen ist aktionsreich, energetisch, unterhaltsam, bleibt während eineinhalb Stunden aber seltsam bedeutungslos und nichtssagend, wie eine aus sicherer Distanz von außen beobachtete fremde Zeremonie – bloß „Ein Spektakel“.
Der Neoprimitivismus könnte an Strawinskys „Sacre“ oder Ravels „Bolero“ erinnern, ist statt rhythmisch und instrumentatorisch komplex eher nackt und ungeschönt, doch zugleich nie wirklich primitiv und archaisch, sondern mit der Verwendung klassischer Instrumente artifiziell gemacht, eben kein echter Kult, sondern ein Kulturprodukt, dessen harmlose pseudo-schamanische Verkleidung auf Dauer intellektuell, musikalisch, strukturell und emotional unterfordert. Die stärksten Momente entfalten Gegenüberstellungen von Relikten einstiger Zivilisation – etwa dem Figurenrepertoire barocker Schreittänze – mit der Seelenlosigkeit eines Pas de deux von Frau und Mann, die sich mit versteiften Armen schlagen und dabei immer näher kommen, bis sie sich ungelenk umarmen, doch nicht emotional oder erotisch, sondern lediglich mit mechanisch abgespulten Reflexen und ausdruckslos ins Leere starrenden Augen.
Das letzte Drittel „Rituals of Celebration“ schwankt zwischen einer Demonstration kulturell vielfältiger Ausdrucksformen von Freude und simplem Multikulti-Entertainment. Eine eklektizistische Revue reiht Anklänge an grölende Fest- oder Fußballgesänge „Oléee-olé-olé-olée“, Klezmer, Pop, Disco, Minimalismus, Laurie Andersen, afrikanische Gesänge, samische Joiks und neodadaistische Vokalfolgen aneinander. Als Verbundstoff für den bunten Mix dient das globale Pop-Einheitsmaß 4/4-Takt. Mit gehauchtem Fistelstimmchen wiegt schließlich ein trauriges Schlaflied die Partygäste zu Bett.