„Wir wären gut anstatt so roh, doch die Verhältnisse sie sind nicht so“, sagt Michael Borth im Freiburger Theater, nachdem er ein blödes Tänzchen hingelegt und den Dirigenten Johannes Knapp mit seiner Trillerpfeife in den Orchestergraben beordert hat. Dieser Mackie Messer kombiniert einen schwabbligen Fatsuit mit Glitzerschuhen und blonder Donald-Trump-Tolle. Dann blinken die Lichter und die Bühne bevölkert sich mit noch mehr komischen Gestalten in ähnlichen Kostümen. Die Dreigroschenoper startet mit der breit musizierten Maestoso-Ouvertüre und dem Morgenchoral „Wach auf, du verrotteter Christ.“
In diesem „Stück mit Musik einem Vorspiel und acht Bildern“, das am 31. August 1928 am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin uraufgeführt wurde, arbeitet Bertolt Brecht mit dem Verfremdungseffekt. Der Zuschauer soll sich nicht mit den Figuren passiv identifizieren, sondern sie aktiv hinterfragen. Schon die zwischen barocker Strenge und jazzigem Groove wechselnde Musik von Kurt Weill ist Verfremdung, weil sie die zum Teil erschütternden Texte in süffigen Melodien und coolem Swing transportiert. Dass die Figuren der Dreigroschenoper schuldlose Opfer des brutalen, kapitalistischen Systems seien, ist eine gerade in der DDR gepflegte Interpretationskonstante. Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer betrachtet diese Haltung kritisch. Am Freiburger Theater sind die Figuren gerne Teil der durchgeknallten, überdrehten, kapitalistischen Welt. Wie aufgezogen trippeln sie zur Musik über die Stege und Treppen des blinkenden Hauses (Bühne: Pia Maria Mackert). „Success“ – Erfolg – steht auf dem zentralen Spielautomaten. Keiner leidet hier an den Verhältnissen, sondern hat sich gut in seinem Fatsuit eingerichtet (Kostüme: Regine Standfuss). Die Kasse klingelt.
Es braucht ein wenig, bis das von Null auf Hundert startende Spiel vom Klamauk zur brillanten Komik wird. Anfangs irritiert es noch, wenn Schlagzeuger Tilman Collmer jeden Faustschlag mit dem passenden Wumms versieht oder Lorenz Kauffer als Filch im breitesten Fränkisch das Bühnengeschehen kommentiert. Immer wieder lässt Schmidt-Rahmer die Figuren aus der Rolle treten und fluchen, lästern und tänzeln. Auch aktuelle Debatten werden aufgegriffen, wenn Lucy (in jeder Sekunde musikalisch und darstellerisch brillant: Lila Crisp vom Freiburger Opernstudio) den Kanonensong wegen fehlender political correctness in reinstem Oxford-English unterbricht. Zum herrlich absurd inszenierten Eifersuchtsduett erscheint der Kommentar: „Höhöhö sagt Brecht, wenn Frauen miteinander kämpfen.“ Da ist manches Mal ein bisschen zu viel nebensächliches Störfeuer dabei, aber die meisten Brechungen haben hohen Unterhaltungswert.
Das liegt zu einen an der vom Jazzensemble des Philharmonischen Orchesters Freiburg perfekt getimten Musik. Dirigent Johannes Knapp meistert die vielen Tempowechsel und heiklen Übergänge mit großer Souveränität. Diese starke Band kann mit Pathos unterfüttern oder die Szenerie anheizen. Zum anderen brilliert das Ensemble. Michael Borth wird als Mackie Messer mit seinem kantablen Bariton und seiner darstellerischen Präsenz zu Everybody‘s Darling. Victor Calero ist ein schön zynischer Jonathan Peachum, Mara Widmann wird als Gattin zur coolen Drama Queen, Henry Meyer (Tiger Brown) ist ein beschränkter Polizeichef mit Hang zur Vulgärsprache. Polly (virtuos: Katharina Ruckgaber) glänzt als überdrehte Shoppingqueen. Mit Wumme in der Hand und Love-Sticker auf dem Bauch macht Inga Schäfer als Spelunken-Jenny eine gute Figur und sorgt im Salomonsong auch für nachdenkliche Momente. Wie überhaupt diese temporeiche, reizüberflutete Dreigroschenoper besonders wirkt, wenn sie zum Stillstand kommt wie im zweiten Finale, als die Figuren in den Seilen hängen: „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. (...) Dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.“
- Weitere Vorstellungen: 17./21. Mai, 2./8./23. Juni, 1./12. Juli 2023, www.theater.freiburg.de