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links Yuriy Mynenko als Andronico. Foto: © Alciro Theodoro Da Silva

links Yuriy Mynenko als Andronico. Foto: © Alciro Theodoro Da Silva

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Tenorfeuer und musikalische Sternstunde: „Tamerlano“ bei den Händel Festspielen Göttingen

Vorspann / Teaser

Am 16. Mai wurden die Internationalen Händel Festspiele Göttingen mit dem Oratorium „Solomon“ HWV 67 in der Stadthalle eröffnet, am Abend davor trat das Ensemble mit gleicher Besetzung in der Hamburger Elbphilharmonie auf. Am 17. Mai folgte im Deutschen Theater Göttingen die heftig bejubelte Premiere der Festspieloper „Tamerlano“ HWV 18. Auch mit den Reihen „Händel in in der Region“ und „Händel 4 Kids!“ bietet das Festival um die Opernvorstellungen bis 25. Mai ein reichhaltiges Programm. George Petrou und das FestspielOrchester Göttingen überwältigten mit dramatisch akzentuiertem Schönklang. Als Bajazet verkörpert Juan Sancho das Ideal eines Händel-Tenors mit romantischer Expression.

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Auf den für den barocken Zeitgeist ungewöhnlichen Tod und Giftselbstmord des Sultans Bajazet folgt in „Tamerlano“ das gar düstere Versöhnungsfinale zweier Paare: Der Mongolen-Herrscher begibt sich schließlich in die erst ehrenrührig verworfene Ehe mit Irene. Bajazets Tochter Asteria erhält doch den vorbestimmten Bräutigam Andronico, ist aber von den vorherigen Erschütterungen wahrscheinlich lebenslang traumatisiert. Aber Psychologie in heutigem Sinn war für die ritualisierte Barockoper zeitspezifisch ein Fremdwort. Trotzdem ist „Tamerlano“ durch packende Rezitative und überaus gestische Musikmalerei Händels nach heutigen Kriterien am meisten lebenswahres „dramma per musica“. 

Aber die musikaffine Regisseurin Rosetta Cucchi lieferte vor allem praktikable Arrangements – ohne Beziehung zum Eröffnungsvortag von Klaus Pietschmann. Dieser hatte dargelegt, dass in den Szenerien der opera seria und speziell der frühen Londoner Opern Händels eine ähnliche Zirkulation von „Privatheit“ contra „Öffentlichkeit“ gültig sei wie in den Themen und Affekten der Arien. Hier geht es diesmal also vor allem um die Musik und für die holte George Petrou, Leiter des FestspielOrchester Göttingen, in „Tamerlano“ wie bei “Solomon“ imponierend viele Sterne vom Himmel. 

Tiziano Santi baute im Neurokoko-Auditorium des 1890 errichteten Deutschen Theaters einen Würfelraum, der sich nach hinten immer wieder zu einem Gitterkäfig und Vakuum öffnet. Die dunkel reflektierenden und blendenden Wände haben Sprünge. So klappt das mit der beschönigenden Selbstbespiegelung des immer despotischer und toxischer agierenden Tamerlano nicht so recht. Auch Claudia Pernigottis Kostüme machen aus dem Herrscher der Tataren unter schlichter Kluft und weißer Perücke einen verbiesterten Fiesling, der bei vielem im Leben zu kurz kam. Jetzt versucht Tamerlano sich mit Grausamkeit und Frust das zu holen, was ihm vorenthalten wurde. Sein Gegner Bajazet hat deshalb, aber auch durch Erscheinung und Erdfarben am exotischen Outfit alle Pluspunkte beim Publikum. Die Erniedrigungen, welche Händel für seine 1724 am Londoner Haymarket-Theater uraufgeführte Oper erstaunlich plakativ auskomponierte, gipfeln darin, dass Tamerlano den Feind und dessen von Tamerlano aussichtslos begehrte Tochter Asteria auf die Knie und dann zum Verzehr von Küchenabfällen zwingt. Alles in erlesenem Rahmen mit vielfach funktionalisiertem Statistenensemble als Bedienstete, Phantome und Pflegedienst.

Ein Ambiente vor allem für großartige Musik in faszinierender Gestaltung. Petrous Händel-Stil zeichnet sich durch größtmögliche Weichheit wie größtmögliche Präzision aus. Die Balance der Instrumente untereinander und zu den Sängerstimmen ist berückend, ja elysisch. Jeder Arien-Mosaikstein hat seinen eigenen Puls. Das bindet sich mit zunehmender Spannung zu einem schillernden Seelentheater. Wenn sich Louise Kemény für den zweiten und dritten Akt als indisponiert ansagen lässt, wird die Qualität und der Rang dieses Musizierens noch deutlicher. Was hier zählt, sind nicht die exponierten hohen und tiefen Töne, sondern das weite Mittelfeld dazwischen als eigentlicher Kosmos. Da bietet Kemény in den leiseren Dynamikwerten und feinen Verzierungen ein vokales Wunderwerk.

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Yuriy Mynenko (Andronio) und Louise Kemény (Asteria). Foto: © Alciro Theodoro Da Silva

Yuriy Mynenko (Andronio) und Louise Kemény (Asteria). Foto: © Alciro Theodoro Da Silva

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Zum Erstaunen ist, dass jede Stimme im sechsköpfigen Ensemble ein individuelles Timbre hat und sich alle - inklusive der hier erforderlichen Eskalationsspitzen - mit einmütiger Verve in das seit Ende des 17. Jahrhunderts vielfach veroperte Sujet von der Niederlage des osmanischen Sultans Bayezid I. gegen den mongolischen Heerführer Timur Lenk im Jahre 1402 werfen. Der partienerfahrene Lawrence Zazzo hat in den Deklamationen schon den Härtebiss eines Charaktertenors und durchfegt die aberwitzigen Koloraturketten mit weißer, kalter Attacke. In Nicola Hayms Libretto-Bearbeitung bleiben – ungewöhnlich in der barocken Opera seria – die ursprünglichen Paar-Konstellationen bestehen. Demzufolge sind die Ehekonflikte Tamerlanos mit der üppig warmen wie machtvollen Irene von Dara Savinova wohl vorprogrammiert. Yuriy Mynenko übernimmt Andronico, in der Uraufführung die Partie des Star-Kastraten Senesino hatte, mit einem samtenen Heroismus der Koloraturen und gewachsener Kraft in der Deklamation. Höchst erfreulich ist auch die Besetzung des Leone mit Sreten Manojlović, einem fein geführten Basso cantante mit unaufdringlichem Schattierungsreichtum.

Regeln sind dazu da, im entscheidenden Moment gebrochen zu werden

„Tamerlano“ wurde durch die großen Auseinandersetzungen im zweiten Akt und Bajazets Selbstmordszene die Händel-Oper mit den ausdrucksstärksten Accompagnato-Rezitativen. Die Besetzung der für den Paradetenor Francesco Borosini komponierten Partie gerät zum Glanzpunkt. Juan Sancho ist zwar Händel-Spezialist, singt Bajazet bei hochkonzentrierter Linearität aber mit der inneren Glut und dem dunklen Feuer eines romantischen Tenors. In den Höhepunktsrezitativen bricht auch Petrou sinnfällig aus der barocken Maßhaltung aus und befeuert wie in einem melodramma des 19. Jahrhunderts. Regeln sind dazu da, im entscheidenden Moment gebrochen zu werden. So setzt sich die musikalische Seite dieser Premiere zum Glück ständig über die kalte Inszenierung und deren gespreizte Ästhetisierung hinweg. Wie Aggression und erotische Gier das hohe Gut menschlicher Harmonie verbrennen, hörte man an diesem bejubelten Premierenabend weitaus deutlicher als man es sah.

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