Erst in den 1970ern überrundete Jules Massenets „Werther“ dessen „Manon“-Bestseller in den Aufführungszahlen und wird seither als Höhepunkt im Schaffen des auf sensitive, weniger auf nationalpatriotische Erotik ausgerichteten Komponisten betrachtet. Ins Kreuzfeuer der Diskurse über kulturelle Aneignung – in diesem Fall durch einen „verfälschenden Zugriff“ auf deutsches Kulturgut durch Frankreich – geriet „Werther“ zum Glück bisher nicht. Das wäre im Falle dieser in deutscher Sprache 1892 in Wien uraufgeführten und erst danach in Frankreich herausgebrachten Oper auch schwierig. In der Neuproduktion an der Opéra Royal de Wallonie-Liège wird das Orchester unter Giampaolo Bisantis erst kongenialer, dann kraftvoll überhitzender Leitung zum Mittelpunkt. Arturo Chacón-Cruz gibt einen hell leuchtenden und sensitiven Werther, Elena Galitskaya eine berückend ideale Sophie.

Massenets „Werther“ in Liege. Foto: J. Berger/ORW
Tod im Schnee nach orchestraler Lyrik-Orgie: Massenets „Werther“ in Liège
Richard Strauss verurteilte „Otello“ wie „alle zu Operntexten verunstalteten Libretti nach klassischen Dramen“. Über Jules Massenets Sensibilitäten und Zärtlichkeitsoffensiven in der Vertonung von Goethes epochalem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ hatte Strauss in seinen Anmerkungen zu einem „Opernmuseum“ allerdings keine direkte Meinung, weil dieses Drame lyrique zu Lebzeiten Strauss‘ im ‚Dritten Reich‘ kaum präsent war. Man muss Massenet unbedingt zugutehalten, dass er von den in Deutschland bei Volksfesten und Feieranlässen üblichen Besäufnisausschreitungen im Duett der Freunde Schmidt und Johann ein eher liebevolles Genrebild zeichnete, wie man das von den Goncourts und Zola bei eigenen Landsleute mit diesem Taktgefühl nicht kennt. Pierre Derhet, der phantastische „Fortunio“ aus Nancy, singt in Liège einen prachtvoll überbesetzten Schmidt und empfiehlt sich also selbst für die Paradepartie des feinblütigen Selbstmord-Kandidaten Werther. Durch solche Besetzungsraffinesse merkt man, dass Massenet immer wieder mal eine Spur drüber ist – auch dann, wenn Charlotte im Ballkleid ihren kleinen Geschwistern das Brot schneidet, aber nicht doch in Haushaltsschürze.
Diese Serie ist die erste Wiederaufführung der französischen Repertoiresäule an der Opéra Royal de Wallonie-Liége nach 26 Jahren. Hier gerät sie in erster Linie zum Triumph des Orchesters unter Chefdirigent Giampaolo Bisanti. Die ersten drei Aufzüge werden zur ekstatischen Dauerberieselung mit dunklen Fäden von Klarinette, Oboe und Saxophon. Bisanti macht, bevor ihn der vokale Dauerüberdruck von Clémentine Margaines aufgedonnerter und freilich mit Applausgewitter überschütteter Charlotte doch noch Druck macht, aus Massenets Melos-Gespinst ein verdichtetes Musikdrama. Der Abend hat Sog, üppige Innenspannung und samtene Überwältigungsattacken in Reihe, welche eine sensiblere Charlotte wie Lièges Mignon Stéphanie d‘Oustrac noch mehr hätte veredeln können.
Erst nach dem großen Weihnachtsnacht-Intermezzo, wenn Werther auf geröteter Schneedecke nach dem Schuss in die eigene Brust selig vergeht, greift Bisanti exaltiert zu gröberen Farben. Das attackiert den Tenor Arturo Chacón-Cruz zum Glück kaum. Glänzend meistert Chacón-Cruz die lange Partie von der Naturhymne über die Ossian-Romanze bis zum gehauchten Verlöschen mit Sensibilität und nachdrücklichen Höhenbögen. Chacón-Cruz weiß, dass Edelstimmen bei Massenet das Orchester nicht immer übertönen müssen und gerade durch Maßhalten gewinnen. Sein Tenor passt zum Kostüm – hier kein blauer Rock und gelbe Hosen wie in Goethes mit Emotionen ballernde Prosa, sondern schwarze Samthosen und Weste mit Glitzer auf violetten Rosenornamenten. Dieser Werther ist ein sympathischer Fremdkörper in der von Marie-Hélène Balaus Kostümen aus der frühen Goethezeit ins späte 19. Jahrhundert gewuchteten Bürgerlichkeit. Wie die Kinder des Amtmannes mit ihrer Kopfgestecken, durch die sie den Elfen aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ in vormoderner Inszenierung ähneln. Rudy Sabounghis Bühnenbild mit Interieur, kahlen Bäumen und vielen Kerzen hält die Mitte zwischen Gediegenheit und Maßhalten.
Zweiter Idealpunkt neben Chacón-Cruz wurde Elena Galitskaya – eine Sophie und schon recht erwachsene Schwester Charlottes mit entsprechend klaren Emotionen für Werther und beeindruckend schön gesungenen Couplets. Ivan Thirion ist ein sanfter bis kerliger Ehemann Albert, Udo Rabec ein sympathischer Amtmann mit spröden Tönen. Jonathan Vork und Lucie Edel aus dem Chor setzen als Käthchen und Brühlmann einen prägnanten Kurzauftritt, Samuel Namotte genießt als Johann die ihm zugedachte Bürgersatire.

Massenets „Werther“ in Liege. Foto: J. Berger/ORW
Aber die Regie ließ den keinerlei dramatischen oder symbolischen Mehrwert bringenden Live-Videos von Giacinto Caponio räumlich und atmosphärisch zu viel Raum. Balau schickt Clémentine Margaine, die als Charlotte wie eine Wetzlarer Walküre alle Pianoblüten jätet und um sich vernichtet, mit einem knallroten, fast ordinären Ballkleid in die schicksalhafte Begegnung mit Werther. Sonst zeigt der Regisseur Fabrice Murgia, dass er das Motivrepertoire von Sturm und Drang bis deutsche Romantik genau studiert hat. Charlotte steht mit klammer Sehnsucht am Fenster. Auf einem Hybridgemälde im Stil von Caspar David Friedrich und Claude Lorrain wechseln die Jahreszeiten mit den frenetischen Stimmungsexzessen des durch Konvention und Leidenschaft bis zur Auslöschung zermürbten Liebespaares. Murgia setzt mehr auf die poetische als meteorologische Wahrheit von Wetter- und Gefühlslagen. So leuchtet Emily Brassiers Licht in goldenen August- und Oktobertönen, bis Werthers Blut den weißen Schnee rötet und er in den Armen der bis zum Schluss wuchtigen Charlotte seine schöne Seele mit ebenbürtig schönen Tönen aushaucht. Da hat Massenet doch sehr gut verstanden, was die Librettisten Blau, Milliet und Hartmann aus Goethes bitteren Details an passenden Stellen einbauten. Über Werthers Sterben leuchtete das Orchester der Opéra Royal noch immer mit souveränem Stil und edelstem Klang.
- Premiere: 13. April 2025 – Besuchte Vorstellung: 15. April – Wieder am 17, 19., 22. April 2025
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