Potenzielle Zuschauer sind gut beraten, die Ankündigung der Oper Halle für die jüngste Premiere genau zu lesen. Und für bare Münze zu nehmen. Es steht zwar „Kitesh“ oben drüber, was auf die selten gespielte Oper von Nikolai Rimski-Korsakov „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija“ verweist. Aber es steht auch da: Uraufführung und Musiktheater von „Hauen und Stechen“ mit Musik von Alexander Chernyshkov und Nikolai Rimski-Korsakov.
Die musikalischen Beiträge, die man in diesem Opernparcours als Novitäten von Chernyshkov ausmachen kann, sind so interessant und werden von Peter Schedding und seinem Dutzend Musiker mit so viel Hingabe gespielt, dass das Lust auf mehr zusammenhängend Identifizierbares davon macht. Was sie auf der Drehbühne im zweiten Teil bieten, gehört jedenfalls auf die Habenseite des Abends. So wie die Kostüme der Hilfstruppen, die vor und in der Oper nicht nur illustrierende Staffage sind, sondern auch das Publikum von Station zu Station führen. Die erinnern an Entwürfe von frühen sowjetrussischen Avantgardisten – irgendwas zwischen Malewitsch und Tatlin. Auch sonst lässt Ausstatterin Christina Schmitt die Zügel ihrer Fantasie schießen. Russisch-mongolische Folkloreanklänge inklusive.
Auch ein russischer Bär spielt mit. In der Jurte auf dem Opernvorplatz vor der „Gurke“ (zu der so nebenbei die Plastik von Michael Morgner erklärt wird) wird der ziemlich übergriffig. Überhaupt ist alles schön bunt, immer in Bewegung, verspielt und turbulent. Es wäre interessant, was die nichtsahnend durch den Trubel rollenden Autofahrer wohl gedacht haben, die sich durch die umherziehenden Mitspieler- und Zuschauergruppen lavieren mussten.
Alles fängt an der Fontäne vorm Theater an. Passt auch irgendwie, weil die sagenhafte Stadt Kitesh versunken ist und alle auf der Suche nach ihr sind. Immer mal gibt es einen szenischen Schnipsel, der etwas mit jener Stadt zu tun haben könnte, die zum Schutze vor dem Ansturm der Tataren von einer gnädigen Vorsehung versenkt wurde. Blub blub – weg war sie. Und alle suchen danach. So wie nach der eigenen Stadt? Oder etwas eigenem ebendort? Vielleicht auch nur nach dem Sinn des Ganzen?
Man wandert also vom Wasserbecken zur Jurte (in der sich quasi alle Russenklischees zum Tee versammeln). Dann noch mal über die Straße, auf die Wiese vor dem Unikomplex. Und dann in die Oper.
In einer Melange aus absinkendem Orchestergraben, Licht und Videoprojektion (Martin Mallon) macht dort ein geradezu konventionell „fertiges“ Untergangsbild Eindruck. Auch ein schöner Todesvogel schwebt über dem Spielplatz der Musiker. In deren Mitte suchen auch die Darsteller mit Eifer nach der untergegangenen Stadt respektive Oper; vielleicht gar nach sich selbst und ihrer Rolle. Und das machen sie mit unbeirrtem Einsatz: die Sopranistinnen Angela Braun, Viola Tepe, Jaqueline Zierau und deren Mezzo-Kollegin Marlene Lichtenberg ebenso wie der Bariton Martin Gerke und sein Bass-Kollege Michael Zehe. Mit dabei und ziemlich präsent: die Schauspielerin Gina-Lisa Maiwald. Das Programfaltblatt verzichtet klugerweise auf Rollenzuweisungen (die nur ungefähr treffen würden) und beschränkt sich auf die Stimmfächer. Für ihren hautnahen Einsatz verdienen sie allesamt höchsten Respekt. Aber auch der Chor, der Ballettnachwuchs und der (Achtung Neusprech!) „Studierendenchor“ und die (hübsche Neuschöpfung!) „Chorespondenten“. Johannes Köhler hatte da sicher jede Menge Koordinierungsarbeit. Am Ende geht nach knapp zwei Stunden zwar nicht der sprichwörtliche Vorhang zu, sondern nur das Licht aus. Aber die ebenso sprichwörtlichen Fragen bleiben trotzdem offen.
Immerhin kann man sich jetzt gut vorstellen, warum das 2007 gegründete Theaterkollektiv für die Sparte Hinterfragung und Experiment mit Regisseurin Franziska Kronfoth „Hauen und Stechen“ heißt. Was sie mit „Kitesh“ an Theaterurgewalt zu entfesseln versuchen, kommt der Kunstwerk-der-Zukunft-Ästhetik, die an der Oper Halle den Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen des Musiktheaters (freundlich ausgedrückt) kontrovers belebte. Aber diese hauseigene Reihe blieb mit ihren Teilen immer in der ihr angemessenen kleinen Form. „Kitesh“ okkupiert nicht nur das ganze Haus, sondern gleich noch dessen nähere Umgebung inklusive Brunnenanlage und Zufahrtsstraße. Da überschreitet die Ambition (die ja weiter reicht, als bis zu einem bunten sommerlichen Eröffnungsspektakel) die Möglichkeiten der Form. Jedenfalls wird nicht mit dem Rückenwind der großformatigen Musik von Rimski-Korsakov die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh erzählt, sondern ein Happening über das Verschwinden der Oper zelebriert. Nicht nur des konkreten Werkes vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, sondern gleich des ganzen Genres. Sollte das das Ziel gewesen sein, dann hat der Abend es erreicht.