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Tönend ruft der Berg und die Männer schreien

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Eine Dramaturgie der Überraschungen beim Salzburger „Zeitfluss“
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Eine Karawane von rund 600 Menschen pilgert die steile Scharte hinunter auf die Lakaralm. Keine Alpenüberquerung fürs Buch der Rekorde, sondern der spetakulärste Event des Festivals „Zeitfluss“, das den Salzburger Festspielen gleichsam das nötige Gran an Zeitgenössischem wiegt. Zum Beispiel mit der hochalpinen Aufführung einer „sinfonischen Aktion“ von George Lopez an den Ausläufern des Kitzsteinhorns. Ein „Theater der Klänge“ hatten Tomas Zierhofer-Kin und Markus Hinterhäuser versprochen, die beiden Organisatoren des Festivals, dessen vierter Jahrgang insofern unter veränderten programmatischen Vorzeichen stattfand. Eingebunden ins Konzept wurden diesmal nämlich nicht nur neue Kompositionen, wie in der vorangegangenen Trilogie um eine „Ästhetik des Widerstands“, sondern auch Musik aus experimentellen Randbereichen und Crossovers zwischen Jazz, Popularmusik und Klassik. Handwerker komponieren (Foto: Oswald) Konzentriert war die Programmatik auf künstlerische Äußerungen, die jenseits enger ästhetischer Diskurse Kernbereiche des menschlichen Lebens tangieren. Nicht zufällig nannten Zierhofer und Hinterhäuser daher Antonin Artaud, den theatralen Entfessler archaischer künstlerischer Kräfte, als geistigen Bezugspunkt. Unter einem „Theater der Klänge“ verstehen die beiden in ihrem - unverständlicherweise nur auf losen Blättern kursierenden - programmatischen Konzept „Werke und Aktionen, denen allesamt eine ursprüngliche Kraft innewohnt, eine Kraft, die sich dem Zweckdenken unserer Gesellschaft entzieht, die Magie und Anarchie in sich trägt und die Formen konventioneller Darbietung sprengt“. Daher konzentrierte sich „Zeitfluss“ auf musikalische Ereignisse, die theatrale Elemente implizieren und die traditionelle Aufführungssituation in den Konzertsälen sprengen. Auf Werke mithin, in denen der Raum des Erklingens gleichermaßen bedeutsam wird wie die Beziehung zwischen den Instrumentalisten und dem Publikum. George Lopez, der komponierende Kubaner mit der Blockhütte bei Heiligenblut, konnte diese programmatische Idee am eindringlichsten verwirklichen: Andächtig versammeln sich die bergfesten Freaks der Moderne in dem U-förmigen Almboden an der westlichen Flanke des Kitzsteinhorns, um den Klängen von „Traumzeit und Traumdeutung“ zu lauschen. Inmitten des friedlich bei diesem Alpen-Woodstock kauernden Völkchens steht Dirigent Oswald Sallaberger auf einer Art Feldherrnhügel. Aber er dirigiert nicht. Über Microports ist er mit den im Umkreis von gut fünfhundert Metern rund um die Zuhörer plazierten Musikern des Tiroler Ensembles für Neue Musik verbunden, um ihnen die verschiedenen Abschnitte einzuzählen. Die Funkverbindung klappt prächtig, und so beginnen die Felswände allmählich zart zu tönen und weite, imaginäre Klangbögen über das Publikum zu spannen. Gehirnströme erzeugen Klänge (Foto: Oswald) Grundiert von tiefen Blechbläsern erheben sich getragene, allmählich verwandelte Akkorde, die von zirpenden Flöten und Klarinetten überschrieben werden. Auch Akzente eines Schlagzeugs und eine Singstimme werden hörbar, aber alles steht ganz im Dienst einer plastischen Raumskulptur. Daß diese nicht nur wohlig tönt, darauf deutet schon der tiefenpsychologische Titel des rund siebzigminütigen Werks. Entgegen seiner als lautstark bekannten Ensemblestücke schuf Lopez’ mit „Traumzeit und Traumdeutung“ aber eine ganz im Einklang mit der Umgebung stehende Bläsermusik, die den Almboden in einen tönenden Raum verwandelt. Ein klingendes Mandala zur Selbstbesinnung des Menschen, der sich im Angesicht der Natur seiner eigenen Nichtigkeit bewußt wird. Neben Lopez’ einfühlsamer Raummusik konnte zweifellos auch Giorgio Battistellis „Experimentum mundi“ die Programmatik einlösen: Ein rhythmischer theatraler Akt aus dem Jahr 1982, bei dem sechzehn Handwerker aus dem bei Rom liegenden Heimatdörfchen des Komponisten gleichsam eine Symphonie aus Alltagsgeräuschen klopfen, die in einer neuen Version nun um Videozuspielungen und von Bruno Ganz verlesene Stichworte aus Diderots „Encyclopédie française“ bereichert wurde. Der Teig knetende Koch hat es freilich schwer neben dem lauten Getön: den meißelnden Hieben eines Steinmetz’, dem munteren Geklopfe zweier Schuster, dem unregelmäßigen Geklöppel der beiden an Pflastersteinen arbeitenden Straßenbauer, dem dröhnenden Gehämmer von Fassbindern und Schmieden, dem Geraspel von Tischlern, dem monotonen Knirschen Mörtel mischender Maurer und nicht zu vergessen: dem schneidenden Wetzen der Scherenschleifer. Ein sympathisches Panoptikum dörflicher Geräusche, das ganz den natürlichen Rhythmen der Handwerker folgt und weit mehr ist als bloß ein Ersatzprojekt für die aus budgetären Gründen auf 2001 verschobene Uraufführung einer Zappa-Performance von Helmut Oehring. Auf Geräuschen basieren auch John Cages „Imaginary Landscapes“, mit Radios oder Muscheln, mit Feuer oder Wasser gespielte Happening-Stücke aus den fünfziger Jahren (mit dem Ictus Ensemble). Noch feinere Klanglandschaften erschließen die Kompositionen von Cages amerikanischem Kollegen Alvin Lucier: zum Beispiel in „Silver Streetcar for the Orchestra“, das mittels elektronischer Verstärkung die wunderlichsten Metallklänge aus einer Triangel zaubert. Oder in der gleichfalls von Robyn Schulkowsky interpretierten „Music for Solo Performer“, in der die Schlagzeugerin über elektronische Sensoren ihre Gehirnwellen an die auf der Bühne verteilten Lautsprecher leitet, die wiederum die davor stehenden Percussionsinstrumente in Schwingung verset zen. Ein gespenstisch ferngesteuertes Schlagzeugsolo, das eine ähnlich feine Klanglichkeit entwickelt wie die meisten anderen Stücke Luciers. Schade, daß der Amerikaner hauptsächlich mit älteren Werken aus den sechziger und siebziger Jahren präsent war, was dem Abend einen Hauch von musealem Anachronismus verlieh. Taufrisch ist hingegen ein gleichfalls auf kaum noch wahrnehmbare Klänge konzentrierter Einakter von dem Sizilianer Salvatore Sciarrino. In stoßweisen Wortschwallen säuselt eine einsam auf einem Stuhl sitzende Sprecherin (Sonia Turchetta) die überlieferten religiösen und sexuellen Phantasien einer mittelalterlichen Mysterikerin. „Infinito nero“, bereits 1998 in Witten uraufgeführt von ensemble recherche, setzt den auf’s Äußerste reduzierten Instrumentalpart jedoch so präzise kalkulierend ein, daß ein mächtiger Spannungsbogen entsteht: Eine Szene aus dem Leben der Maria Magdalena de’ Pazzi, einer Hysterikerin aus dem Lehrbuch Charcots, als Studie beklemmender Verlorenheit, zwischen Angst und Einsamkeit, zwischen Schwarz und Weiß. „Zeitfluss“ präsentierte diesmal aber nicht nur verinnerlichte Kompositionen. Wie bereits angedeutet, zeichnete sich das Programm des diesjährigen Festivals, das Hinterhäuser und Zierhofer-Kin wieder mit viel Gespür für eine abwechslungsreiche Gesamtdramaturgie zusammengestellt hatten, gerade durch die Integration experimenteller U-Musik-Komponenten aus, die nicht selten einen lautstarken Kontrapunkt zu den filigranen Klangkompositionen Lopez’, Cages, Taciers und Sciarrino bildeten. Herzleidenden, Schwangeren und Epileptikern wurde etwa der Besuch der Performance des Duos „Granular Synthesis“ verboten. Was Kurt Hentschläger und Ulf Langheinrich dann an den Pulten ihres Computer-Equipments als „Pol Version 2.0“ entfachten, war in der Tat an die Randzonen des gerade noch schmerzfrei Hörbaren gestoßen: Ein Geräuschband, durch Filterbanken ähnlich körnig gemacht wie die gleichzeitig über eine Wand von Screens flimmernden Videos mit der kaum noch erkennbaren Diamanda Galas, umhüllte die Zuhörer in so undurchdringlicher Dichte, daß die Körper zu vibrieren begannen. Schallwellen von brachialer Kraft, die, sehr intelligent eingesetzt, an die Grenzen der Wahrnehmung führen. Nicht minder lautstark präsentierte sich der finnische „Chor der schreienden Männer“. Das martialische Gebrüll der rund 40 Mannen von „Mieskuoro Huutajat“ um den Dirigenten Petri Sirviö ist freilich nicht ernst gemeint, sondern als Karikatur steifer Liedertafeln und stramme Hymnen singender Nationalisten. Eine Demontage der Sinfonik Gustav Mahlers führte auch der Pianist Uri Caine mit acht erlesenen Jazzmusikern vor. Um diese dann freilich wieder neu zusammenzusetzen. Zu einem erstaunlichen Stilmix, der die volksmusikalischen Elemente der Musik Mahlers ebenso freilegt wie deren jüdische Wurzeln und in der Live-Performance auch Platz läßt für Hard-Bop-Improvisationen, bei denen vor allem der Klarinettist Don Byron durch unorthodoxe Soli glänzte. Durch seine Exkursionen in die Gefilde der vielgeschmähten U-Musik ist „Zeitfluss“ heuer – trotz Einar Schleefs kurzfristiger Absage des Gluck-Projekts – zweifellos bunter geworden und dadurch für das Publikum noch attraktiver. Und so durfte am Ende getanzt werden im Residenzhof zu den aberwitzig beschleunigten Klängen der rumänischen Gypsie-Brass-Band „Fanfare Ciocarla“. Ein Ausklang von urwüchsiger Vitalität.

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