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Triumph für die Neue Musik

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Die 62. Sommerlichen Musiktage in Hitzacker
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Noch lange wird man von diesem Festival begeistert reden, das vom 28. Juli bis 5. August so viele Zuhörer wie noch nie zuvor ins Wendland zog. Und das, weil der künstlerische Leiter, Markus Fein, einen Grundsatz verfolgte, von dem man Popularität am wenigsten erwartet: „Ich finde,“ meinte er, „dass die Neue Musik bei einem Festival, das in der Gegenwart stattfindet, dabei sein muss. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, ein Musikfestival zu konzipieren, wo man die Neue Musik ausschließt.“ Und das, obwohl dieses älteste Kammermusikfestival in Deutschland von seinen Ursprüngen her eines der rein klassischen Musik ist.

Ein Zauberwort des Kurators hieß in diesem Jahr „Begegnung“: Begegnungen von klassischer und zeitgenössischer Musik, von Literatur, Musik und Film, von Musik, Landschaft und Leuten, von Komponisten, Musikern und Hörern. Markus Fein war es im nunmehr sechsten Jahr seiner Amtszeit gelungen, in dem malerischen Backsteinstädtchen an der Elbe im Wendland für eine Woche einen wahrhaft künstlerischen Erlebnisraum zu schaffen; einen Erlebnisraum für alle Sinne. Dieser umfasste ebenso Kompositionen von George Crumb, Schubert und Brahms im Eröffnungskonzert „An den Mond“ wie einen Festival-Walk auf dem Deich zum alten Marschhufendorf Konau mit Tango-Unterbechungen durch Quadro nuevo, die sechs Cello-Suiten von Bach, verteilt auf drei Dorfkirchen oder nachmittägliche Kuchenbuffets, etwa auf Einladung des Grafen von Bernsdorf in seinem Schlossgarten, und – für viele wohl der Höhepunkt – Begegnungen mit zwei der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit: mit Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm. Hunderte kamen, um deren Musik kennenzulernen.
Ein zweiter Grundsatz des künstlerischen Leiters sorgte für einen weiteren Höhepunkt gleich zu Beginn: „Es gibt ganz klar den Wunsch von mir, das Konzertritual aufzubrechen. Natürlich, wenn das so verfestigt ist, dann öffnet es auch nicht das Hören. Deswegen gab es diese Musik zum Sonnenaufgang von Daniel Ott, wo wir den Konzertrahmen wirklich ganz, ganz weit hinter uns gelassen haben, in die Landschaft hinaus gegangen sind.“

Der Konzertrahmen für die Uraufführung von „landschaft 29/7“ des Schweizer Komponisten Daniel Ott und des jungen Berliner Theaterregisseurs Enrico Stolzenburg waren das Elbtal und der Weinberg von Hitzacker, zwischen 4.30 und 6.00 Uhr in der Frühe. Mehr als 200 Leute waren gekommen – und erlebten eine seltene Stunde des Glücks: das Wunder eines Sonnenaufgangs in den Elbtalauen, einzigartig intensiviert durch so transparent wie plastisch in diese Landschaft eingesetzte Klangstrukturen; Ausführende waren fünf Blasorchester und Posaunenchöre der Umgebung sowie Studenten der Hamburger Musikhochschule. Der zweite Teil auf dem Weinberg öffnete den Blick ins Erhabene und steigerte sich gegen Ende zu einer übermütigen Impro-Session.

Das zweite Zauberwort heißt Hör-Akademie; in diesem Jahr als öffentliche Probensituationen der Komponisten mit durchweg vorzüglichen Interpreten. Nochmal Markus Fein: „Die Idee dahinter ist nicht so sehr, Wissen zu vermitteln. Es geht um eine lebendige Auseinandersetzung mit Musik. Es geht darum, möglichst nah, mit der Lupe, an die Musik heranzugehen und die Hörer wirklich selbst in die jeweilige Klangwelt zu involvieren. Deshalb ist es mir immer wichtig, Werkstattformate zu finden, möglichst lebendige Formen der Musikvermittlung und kein referatsmäßiges Monologisieren.“ Als genialer Schachzug erwies es sich, dabei sowohl in den Hör-Akademien als auch in den Konzerten gerade Helmut Lachenmann auf Wolfgang Rihm treffen zu lassen und umgekehrt. Erlebte das Publikum dadurch doch – ohne Worte – zwei der wesentlichen Richtungen zeitgenössischer Musik: einen Neubeginn als Neusetzung von Material und Ästhetik einerseits und die innovative Fortschreibung von Traditionen andererseits. In den beiden Konzerten resultierten daraus spannendste Hörerlebnisse. Etwa durch die Kombination von Rihms „Chiffre IV“ für Bassklarinette, Cello und Klavier und Lachenmanns 3. Streichquartett „Grido“, letzteres in einer atemberaubenden Interpretation durch das Streichquartett des Hamburger Ensembles Resonanz: Eine hellwache Neuformulierung von Charakteren der Beharrlichkeit, Kraft und Behutsamkeit, angesiedelt in den nicht zu bewältigenden Unruhen des Daseins.

Kaum fassbar, dass die Festivaldramaturgie dazu noch eine Steigerung bereithielt: nämlich im Orchester-Konzert zwei Tage später. Gegensätzlicher als mit Lachenmanns „Mouvement (– vor der Erstarrung)“ und Rihms „Jagden und Formen“ hätte eine musikalische Begegnung kaum sein können: Höchst konzentrierte Energiezustände von differenziertester Farbigkeit trafen auf ein polyphon üppiges, sich orgiastisch steigerndes Dahinjagen. Mit dem Ensemble Modern unter Leitung von Sian Edwards wurde dieses Konzert zu einer Sternstunde Neuer Musik – in Hitzacker.

Auch die beiden Hör-Akademien im Jagdschloss Göhrde beziehungsweise im Konzertsaal „Verdo“ in Hitzacker wurden zu einem spannenden Parcours durch die Klangwelt dieser beiden Komponisten. Eintauchend in die Details und Differenzen von Geräuschklängen – demonstriert am Beispiel des legendären Cello-Solostücks „Pression“ von 1969 durch Michael M. Kaspar – wurde die Lachenmann’sche Kompositionsästhetik auf Anhieb klar: Wann etwa ein Geräusch hässlich ist und wann schön. Ähnlich war das bei Wolfgang Rihm: Das Hölderlin-Lied „Abbitte“ etwa ist eben doch kein hochromantisches Klavierlied, wie es die erste Interpretation weißmachen wollte. Schon kleine Korrekturen durch den Komponisten hinsichtlich einer leichteren und behutsameren Interpretation modellierten den typisch Rihm’schen Ausdruck. So wurde dann auch, im nur scheinbar Vertrauten, das Hören zum Abenteuer.

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