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v.l.: Vincent Wolfsteiner (Calaf), Rachael Tovey (Turandot), Opernchor. Foto: Ludwig Olah
v.l.: Vincent Wolfsteiner (Calaf), Rachael Tovey (Turandot), Opernchor. Foto: Ludwig Olah
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Turandots Alptraumwelt – Calixto Bieito blickt in Nürnberg hinter allen Märchen-Exotismus

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Offene Bühne vor aller Musik: ein Blick in den Innenhof einer Fabrik – gestapelte Kartons wie eine Wand im Hintergrund; kaltes Neonlicht auf 35 präzise aufgereihte Kartons mit je einer Kinderpuppe aus Plastik; uniform in blauen Arbeitskitteln mit Mützen und Mundschutz marschieren Arbeiter auf – eine Produktionsstätte irgendwo in China oder Nordkorea, die Puppenproduktion Ausdruck einer Neurose der totalitär herrschenden Chefin?

Dazu lässt Dirigent Peter Tilling die ersten Orchesterschläge brachial donnern. Auch im weiteren Verlauf des pausenlosen 105-Minuten-Abends passen Lautstärke, Wucht und unschwelgerischer Klang zur Bühnenaktion: Szene und Musik also im interpretatorischen Gleichklang – nur leider sind da auch seltsame Tempi, Unstimmigkeiten zwischen Bühne und Orchester. Auch der Gegenpol, die opferbereite Liebe der Arbeitssklavin Liu, bringt kein klangliches Aufleuchten einer beseelten anderen Welt – was nicht an Hrachuhí Bassénz’ warmem Sopran liegt. An der musikalischen Seite der Aufführung darf also noch deutlich gearbeitet und verbessert werden.

Der eindeutige Gewinn des Abends ist der szenische Abschied von allem Märchen-Exotismus, der die entlarvend modernen Züge des Werkes in Text und Klang sonst meist angenehm „fern“ rückt, abmildert und „konsumierbar“ macht. Bieitos Calaf kommt wie ein chinesischer Wanderarbeiter in die militärisch absolutistisch organisierte Turandot-Fabrik. Dort wird im Hof gemeinsam exerziert und gearbeitet. Dort prügeln und demütigen die drei Offiziere Ping, Pang und Pong; Calaf, Liu und Timur wird das Schild „Verräter“ umgehängt – Bilder aus der chinesischen Kulturrevolution, Abu-Ghuraib bis jüngst zu deutschen Asylheimen kommen dem mitdenkenden Musiktheaterfreund in den Sinn… und das alles ist nicht Bieitos häufige Neigung zum bluttriefenden Regie-Exzess: im Text ist durchweg von Angst, Folter, Blut, Köpfen, Tod und dementsprechenden Alpträumen die Rede - deshalb agiert die verängstigte Arbeitssklavenmasse mehrfach wie in blutrünstiger Mob – war es in den römischen Gladiatoren-Arenen oder in der US-amerikanischen Lynch-„Justiz“ anders?

Der von Tarmo Vaask einstudierte Chor darf viel frontal geordnet singen und beeindruckt dementsprechend mit Klangwucht bis hin zur Wildheit und sitzt andererseits am Ende doch freiheitsunfähig und apathisch ergeben da. Als Liu nach einer wüsten Prügelung mit Kinderpuppen fürchtet, Calafs Namen zu verraten – „Ich haben Angst vor mir selbst“ – und sich mit einem Plastikstück die Halsschlagader durchschneidet, wird die Erinnerung an den Freitod so vieler gefolterter Widerständler weltweit wach. Seltsam unberührt, fast wie in einer neurotischen Fixierung auf das unnahbare Weib geht Calaf durch all diesen Horror. Vincent Wolfsteiner meistert die tenoralen Anforderungen achtbar und hängt sich zu „Nessun dorma“ sein „Verräter“-Schild um, aber neu beschriftet mit „Poesia“ – wie ein Fremdkörperhinweis, denn er ist eben auch vokal kein italienischer Opernheld.

Die Turandot von Rachael Tovey beeindruckt allein durch ihre wuchtige Bühnenerscheinung: ein westlich gekleideter „Boss“ mit blonder Hollywood-Mähne, eine Frau, die alles echt Weibliche neurotisch unterdrückt und mit stählernen Soprantönen rigide Distanz wahrt. Sie hält ihren Vater als fast nackten Greis wie einen Hund – Strafe für einen früheren Missbrauch? Dieser Vater schleppt eine Urne mit, beschmiert sich mit Asche – Asche der toten Ehefrau, in die er auch Turandot beschmierend rückverwandeln will? Am Ende sitzt sie da und zerstört Kinderpuppen. Da bleibt einiges überfrachtet regie-unklar. Doch eine Grundsatzentscheidung gab dem düster beeindruckenden Abend das treffende Ende: kein nachkomponiertes Liebes-Duett, kein Alfano-Ende – es wird das von Puccini nicht vollendete Fragment gespielt, das nach dem Tod Lius offen endet – so wie die Gewaltproblematik in dieser Welt ungelöst bleibt. Kein „schöner Abend“ also, prompt Buh-Rufe; Musiktheater für Hier und Heute, dafür Bravo-Rufe.

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