Nur wenige Regisseure oder Regisseurinnen können es wagen, ohne Peinlichkeiten und/oder altbackene Künstlichkeiten in heutiger Zeit einen Exorzismus auf der Opernbühne zu zeigen (im Film liegt die Problematik etwas anders). Im Theater Bremen ist eine solche Szene das ergreifende Schlussbild von Sergej Prokofjews 1927 entstandener Oper „Der feurige Engel“ in der Inszenierung der tschechischen Regisseurin Barbora Horáková, die zum ersten Mal in Bremen inszeniert. Und hoffentlich bald wieder, kann man nach der bejubelten Aufführung mit „standing ovations“ nur sagen. Dass sie sich für Prokofjews vierte von seinen acht Opern – von denen eigentlich nur noch „Die Liebe zu den drei Orangen“ bekannt ist und aufgeführt wird – entschieden hat, spricht für ihren Mut, ihre Fantasie und ihre differenzierte Gestaltungskraft. Ein „unerbittliches Brennglas“ nannte sie in einem Interview die Partitur, und die gekonnte, einfallsreiche Umsetzung mutete sie dem Publikum auch zu.
Nadine Lehner. Foto: © Jörg Landsberg.
„Unerbittliches Brennglas“ – Zeitlose Verzweiflungen in Sergej Prokofjews „Der feurige Engel“ im Theater Bremen
Denn sie schafft es, Renatas leidvolle Lebensgeschichte, die – nach dem symbolistischen Roman von Waleri Brussow (1908) – sich 1534, aber weitgehend historisch orientierungslos zwischen Inquisitionswahn und Humanismus, zwischen Okkultismus und Wissenschaft, zwischen Ekstase und gesellschaftlicher Angst bewegt, die Frage: „Wo sind wir eigentlich?“ immer wieder von neuem aufwirft, einem einfachen, aber letztendlich logischen Muster zu unterziehen: Die in der Kindheit traumatisierte Renata sucht lebenslang ihre Heilung, die sie nicht findet. Schon der Anfang macht klar: Renata rennt und rennt und rennt – im Hintergrund über Videos und eine sich drehende Bühne ein vorbeirasendes Leben. Sie rennt weg vor den Geistern der Vergangenheit, die sie seit dem Besuch des Engels mit Namen Madiel bei der Achtjährigen verfolgen – immer wieder taucht sie in Videos als Kind auf. Aus Kinderbausteinen baut sie sich eine Stadt und sucht den Mann, der Madiel verkörpert. Sie landet – nachdem ein Graf Heinrich, den sie für Madiel hielt, verlassen hat – in einem dreistöckigen Hotel (Bühne von Ines Nadler), lernt den Ritter Ruprecht kennen, dem sie ihr Leben erzählt und der sich auf eine zutiefst toxische Beziehung einlässt: Ruprecht verliebt sich in Renata, will ihr helfen und sie manipuliert ihn auf schwer erträgliche Weise. Sie brauchen einander, zerstören sich, aber können voneinander nicht lassen: Ruprecht, weil er an die Liebe glaubt, und Renata, weil sie ihn braucht für ihre Rache an Heinrich. Dies wird auch an deren Kostümen, verdeutlicht: Das brave Kleidchen von Renata ist derselbe Stoff wie das Hemd von Ruprecht (Kostüme von Eva-Maria van Acker).
Das rasende Tempo der Inszenierung und die Menge der immer wieder überrumpelnden Bilder machen streckenweise zu schaffen, erschweren auch die Rezeption, aber sie sind auch dem seelischen Tempo der Empfindungen geschuldet und überzeugen von daher. Noch dazu, weil es eine gut getaktete Anpassung an das wilde und bohrende Dauerbrio der Musik ist. Die Musik ist sozusagen immer „oben“, kommt selten zur Ruhe und arbeitet teilweise filmisch, mit Schnitten ebenso wie mit Stimmungen. Das war mitreißend gelungen durch die Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Stefan Klingele.
Nadine Lehner, Ensemb le, Statisterie und Kinderstatisterie des Theater Bremen. Foto: © Jörg Landsberg.
Es war schon die Rede von der schwer durchschaubaren Menge der Gestalten, die ein faszinierendes Doppelleben zwischen ihrer „Realität“ und ihrer Bedeutung als „Projektion“ von Renata führen. Da ist die berechnende Schenkwirtin, glänzend und pfiffig gespielt von Ulrike Mayer, da ist die unfassbar unwirkliche Wahrsagerin und Äbtissin, eisig gespielt von Nathalie Mittelbach, da ist der seine Wissenschaft grotesk propagierende und gleichzeitig Magie verschüttende Arzt von Jan Spinetti und weitere aufwühlende Gestalten wie der sich einschleimende Faust von Wolfgang Borries, der casparartige Jakob Glock durch Fabian Düberg, der Schenkwirt durch den intensiven Christoph Heinrich, der suggestive Inquisitor durch Jasin Rammal-Rykala.
Neben der aufregenden Inszenierung sind die beiden Hauptdarsteller eine Reise wert: Nadine Lehner füllt die unglückliche Renata mit einer schwer zu beschreibenden Glaubwürdigkeit, ihr Wahnsinn wird in allem ausgebreitet, in Körperhaltung, in kleinsten Bewegungen, in großen Aggressionen bis zum atemberaubenden Exorzismus am Ende. Dazu kommt eine große Stimme, die all dies auf spezifische Weise ebenso ausdrückt. Ihr ebenbürtig zeigt Elias Gyungseok Han als Ruprecht stimmlich wie darstellerisch schnell wechselnde Situationen, wie sie die katastrophale „Beziehung“ erfordert.
- Weitere Aufführungstermine: 29.10., 8. und 21.11., 18.12., 8.2. 2026 und 20.3. 2026.
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