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„Alpenkönig und Menschenfeind“ am Theater Aachen: Paul Armin Edelmann (li.) und Ronan Collett Foto: Wil van Iersel
„Alpenkönig und Menschenfeind“ am Theater Aachen: Paul Armin Edelmann (li.) und Ronan Collett Foto: Wil van Iersel
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Vergessen, aber am Puls der Zeit: Leo Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“ am Theater Aachen

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Leo Blech (Jg. 1871) war über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Figur des deutschen Musiklebens, insbesondere in Berlin. Das Theater seiner Heimatstadt Aachen hat den vergessenen deutsch-jüdischen Dirigenten und Komponisten nun mit der Wiederherstellung seiner Ehrenmitgliedschaft und der lohnenden Wiederentdeckung seiner Oper „Alpenkönig und Menschenfeind“ geehrt.

In diesem Fall muss man zunächst über den Menschen sprechen. Leo Blech (1871–1958) gehört – als Dirigent noch mehr denn als Komponist – zu den großen Musikerpersönlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Wie viele andere war er nahezu vergessen – und blieb es bis 2013, als die Berliner Senatsverwaltung das ihm gewidmete Ehrengrab auf dem Friedhof Heerstraße abräumte. Dies führte dann doch zu Protesten unter Musikkennern, und eine Aktion „Blechen für Blech“ finanzierte einen ihm gewidmeten Band in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ beim Berliner Verlag Edition Hentrich.

Mit Berlin verband Leo Blech eine jahrzehntelange Dirigententätigkeit. 1906 hatte man den 35-jährigen vom Deutschen Landestheater in Prag an die Königliche Oper geholt, wo er schon 1913 zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. Dort blieb er – mit Ausnahme der Jahre 1923 bis 1926 – bis zum Jahr 1937, als man ihn zwangsweise pensionierte, nachdem es bis dahin dem Generalintendanten Heinz Tietjen gelungen war, bei Hermann Göring (in dessen Funktion als NS-Ministerpräsident von Preußen) Blechs Verbleib im Amt trotz dessen jüdischer Abstammung durchzusetzen. Blech gelang es, in Riga Erster Gastdirigent der Nationaloper zu werden. Vor der deutschen Besatzungsmacht konnte er 1941 von dort mit Tietjens Hilfe nach Schweden fliehen und an der Königlichen Hofoper in Stockholm weiter arbeiten, wo ihm schon 1925 der Titel eines Hofkapellmeisters verliehen worden war. In Berlin blieb er über die Nazi-Zeit hinweg offensichtlich eine Dirigenten-Legende, und Tietjen, der nach dem Krieg Intendant an der Deutschen Oper im Westteil der Stadt geworden war, gelang es, Blech 1949 zur Rückkehr bewegen, um das „arg zerzauste“ Orchester wieder aufzubauen. In Charlottenburg amtierte er nochmals vier Jahre als GMD, bis er nach einem Sturz vom Dirigentenpult mit 82 in Ruhestand ging.

In Aachen wurde Leo Blech als Sohn eines Pinsel- und Bürstenfabrikanten geboren. Er entpuppte sich bald als pianistisches und kompositorisches Wunderkind, machte aber erst eine kaufmännische Lehre, bevor er 1891 zum Studium nach Berlin an die Hochschule für Musik ging. Ein Jahr später brach er das Studium ab, komponierte im selben Jahr seine erste Oper „Aglala“, die nicht nur sogleich am Stadttheater Aachen angenommen wurde, sondern ihm auch eine Anstellung als Zweiter Kapellmeister einbrachte. Er stieg dort zum Ersten Kapellmeister auf  und rundete seine kompositorische Ausbildung durch private Studien bei Engelbert Humperdinck in Frankfurt ab. Auch seine zweite Oper „Cherubina“ wurde in Aachen uraufgeführt; die Titelpartie sang seine spätere Frau Martha.

1899 folgte er dem Ruf nach Prag. Dort entstand 1903 seine fünfte Oper „Alpenkönig und Menschenfeind“ nach dem romantischen Zauberspiel „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ des österreichischen Volksdichters Ferdinand Raimund aus dem Jahr 1828. Die Uraufführung fand am 1.10.1903 am Dresdner Hoftheater unter Ernst von Schuch statt. 1931, anlässlich seines 60. Geburtstags, erfolgte die Ernennung zum Ehrenmitglied des Aachener Stadttheaters. Mit seinem erzwungenen Weggang aus Deutschland verschwand der Titel aus dem Deutschen Bühnenjahrbuch, und es dauerte 91 Jahre, bis anlässlich der Aachener Premiere von „Alpenkönig und Menschenfeind“ im September 2022 die Ehrenmitgliedschaft offiziell wiederhergestellt wurde. Die Partitur der Oper war übrigens beim Verlag verschollen, fand sich aber im Archiv der heutigen Staatsoper Prag.

Nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist war Blech bis in die frühen 1920er Jahre durchaus erfolgreich. Danach scheint er das Komponieren aufgegeben zu haben; zu sehr war er anscheinend in der Musik des Fin de Siècle verwurzelt, die er auch als Dirigent pflegte. In Prag und Berlin dirigierte er Werke von Eugen d’Albert (die Uraufführung von „Tiefland“!), Ferruccio Busoni, Richard Strauss und Franz Schreker. Dieser stilistische Hintergrund ist der Musik von „Alpenkönig und Menschenfeind“ durchaus anzumerken; auch Engelbert Humperdinck und Gustav Mahler kann man heraushören. Das Werk mit dem abfälligen Titel „Kapellmeistermusik“ als Kompilation des Gehörten und Dirigierten abzutun, greift allerdings zu kurz. Wer jetzt in Aachen Strauss’ „Alpensinfonie“ heraushört, muss sich bewusst machen, dass diese erst 12 Jahre später uraufgeführt wurde. Es gibt sogar eine Szene, in deren nervöser Atonalität ein panikartiger Seelenzustand wie in Arnold Schönbergs 1909 entstandenem Monodram „Erwartung“ anklingt. Fortschrittlich ist auch der Umgang des Komponisten und seines Librettisten, des Prager Literaten Richard Batka, mit der literarischen Vorlage. Raimunds „Zauberspiel“ wird nicht nur dramaturgisch geschickt gestrafft, sondern auch aktualisiert. Ausgedehnte Naturbilder in den Vordergrund zu rücken, lag unbedingt im Trend der Zeit: 1895 entstand in Wien die Naturfreunde-Bewegung, in Berlin gründeten 1896 junge Leute den „Wandervogel“; und 1909 errichtete Richard Schirrmann in Altena (Westfalen) die erste Jugendherberge.

Die Zauberei des „Alpenkönigs“ wieder erscheint nur noch sehr begrenzt märchenhaft; denn was die legendäre Berggestalt mit dem an Verfolgungswahn und Menschenhass leidenden Psychopathen Rappelkopf anstellt, könnte man mit dem Begriff „Kognitive Verhaltenstherapie“ bezeichnen. (Die treffende Bezeichnung verdanke ich der Rezension im Aachener Stadtmagazin „Klenkes“.) Rappelkopf (Paul Armin Edelmann) wird in die Gestalt seines Schwagers versetzt und muss sich in dieser Rolle sein eigenes Verhalten betrachten, das der Alpenkönig (Ronan Collett) ihm und seiner Familie in seiner eigenen Gestalt vorspielt. Hatte der Kranke zuvor seinem Diener Habakuk (Joshua Owen Mills) Mordabsichten unterstellt, wie dieser ein harmloses Küchenmesser in der Hand hielt, wird er nun als sein eigener Schwager in vergleichbarer Situation eines Anschlags auf die eigene Person verdächtigt – und gelangt durch diese Spiegelung zur Selbsterkenntnis.

Das ist – sieben Jahre, nachdem Sigmund Freund erstmals den Begriff „Psychoanalyse“ benutzte – am damaligen Puls der Zeit und auch heute noch spannend zu verfolgen. Nach der Behandlung verschwindet der Alpenkönig ohne großen Theaterdonner; ein guter Therapeut stellt sich eben nicht selbst in den Vordergrund. Zurück bleibt der geheilte Klient mit seiner teils erleichterten, teils ungläubigen Familie. Musikalisch führt das zu einem überraschenden Rückzug vom Großorchestralen ins Kammerspielhafte; hier hätte man sich als Hörer eine sinfonische Abrundung gewünscht, nachdem vor der Pause noch ein gewaltiges Schwurduett, in dem der Alpenkönig sich scheinbar zum Komplizen der Vernichtungsfantasien seines Klienten macht, die dramatische Spannung gewaltig erhöht hatte.

Nicht verschweigen darf man die entlastenden Momente, die dem Hörer den Weg in die geographischen und seelischen Klüfte erleichtern. Leitmotivisch ist der Alpenkönig leicht zu erkennen und häufig zu hören. Gleich zu Beginn der Ouvertüre wird er durch eine sanfte Trompetenmelodie eingeführt, die einerseits Majestät, andererseits Philanthropie signalisiert. Einen leicht parodistischen Einschlag hat wohl die Eingangsszene mit Rappelkopfs Tochter Marthe (Netta Or) und der Dienerin Lieschen, (Anne-Aurore Cochet), in deren anspruchsvolle Sopranpartien immer wieder anscheinend landestypische Jodler eingearbeitet werden. Lieschen und der sie anschwärmende Habakuk haben miteinander ein witziges und ein sentimentales Operetten-Duett.

Dass dabei immer wieder der eine oder andere französische Begriff fällt, verortet Familie Rappelkopf in gehobenen Kreisen – ebenso wie Marthas Hinweis auf die philosophischen Bücher, aus denen Rappelkopf sein misanthropisches Weltbild bezieht. Aus Raimunds recht trostloser Köhlerszene wird eine charmante Handwerker-Parodie in Gestalt des Klarinette spielenden Tischlermeisters Veit Meinhart (Pawel Lawreszuk) und seiner Familie; er braucht eine Weile, bis das Instrument anspringt und bläst dann erst einmal „fis“ statt „f“, weil „die Noten so schlecht zu erkennen sind“. Merkwürdigerweise bleibt Marthes Verlobter Hans (Soon-Wook Ka) dagegen musikalisch blass; bei Raimund handelt es sich um einen Maler, dem Vater Rappelkopf als brotlosem Künstler naturgemäß die Hand seiner Tochter verweigerte. Bei Blech hat er es in Italien zum Kapellmeister gebracht, bleibt aber als solcher sehr bescheiden im Hintergrund. Insgesamt arbeiten GMD Christopher Ward und das Sinfonieorchester Aachen die verschiedenen Stilebenen der Musik plastisch heraus; es ist wirklich spannend, hörend der Partitur zu folgen.

Regisseurin Ute M. Engelhardt, Ausstatterin Henriette Hübschmann und Choreograph Ken Bridgen setzen in ihrer Inszenierung nachvollziehbar auf Stilisierung. Die Eingangsszene der beiden Mädchen mit einem aufgerichteten weißen Pferd und flügelschlagenden Schmetterlingen verstärkt den unterschwelligen Kitsch-Faktor der Musik; später finden wir dann zwei schwarze Pferdeköpfe an Rappelkopfs Sessel. Insgesamt kommen die Szenen mit wenig Mobiliar aus; neben Eduard Joebges’ Lichteffekten sorgen Musik und Darstellung für Atmosphäre. Schwerer nachvollziehbar ist, wieso der Tischlermeister an den Händen Werkzeuge statt Finger trägt, schon eher, dass die Arme seines herumtollenden Sohnes Toni (Ken Bridgen) in Schlagzeugsticks münden; das passt recht gut zum Lärmen im Orchestergraben. Gut nachvollziehbar ist die äußere Ähnlichkeit von Alpenkönig und Rappelkopf, die ja – psychologisch betrachtet – tatsächlich zwei Facetten ein- und derselben Person darstellen. Auf der Handlungsebene bleibt das zumindest für Rappelkopfs Frau Sabine (Irina Popova) irritierend; die beiden jungen Paare, deren Vermählung nichts mehr im Weg steht, freunden sich dagegen schnell mit dem Happy End an.

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