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Don Carlos in Bremerhaven. Foto: Stadttheater Bremerhaven
Don Carlos in Bremerhaven. Foto: Stadttheater Bremerhaven
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Verletzungen zwischen Glücksanspruch und Macht – Verdis „Don Carlos“ am Stadttheater Bremerhaven

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Eine Welt der Spitzel, eine Welt des Eingeschlossenseins: Riesige Augen im Gartengestrüpp und Gitter zeigen das. Später kommt noch das übergroße Spinnennetz (der Inquisition) hinzu. Mehr braucht der Bühnenbildner und Regisseur Christian von Goetz auch nicht, um die Welt anzudeuten, in der fünf Menschen in schwer erträglicher Weise verletzt und getötet werden und noch immer an Ideale glauben – jeder für sich zerschellt an der Macht von Staat und Kirche.

Das sind in Giuseppe Verdis „Don Carlos“ der spanische König Philipp und die intrigante Prinzessin Eboli, sein Sohn Don Carlos und seine Stiefmutter und ehemalige Verlobte Elisabeth und der um die flandrische Freiheit kämpfende Feuerkopf Rodrigo Posa. Der schreibt, als das Publikum die Plätze einnimmt, an die Wand: „La Libertá non é uno sprettro – die Freiheit ist kein Gespenst“.

Man macht eine eigenartige Entdeckung: Obschon der Regisseur – der 2013 den Kritikerpreis für Fortners „Bluthochzeit“ erhielt – keinerlei pädagogische oder didaktische Mittel verwendet, kombiniert der Zuschauer jetzt in der Premiere am Stadttheater Bremerhaven durchaus mit den bedrohlichen Fundamentalismen der heutigen Welt: Rübe ab allen Andersdenkenden. Die Spur der Spielzeit im 16. Jahrhundert über den vorrevolutionären Zugriff von Friedrich Schiller und über Verdis Lebensthema – die Zerstörung des individuellen Glückanspruches durch Macht und Gesellschaft – bis zu allen zerstörerischen Mächten und Mechanismen der Neuzeit funktioniert an diesem Abend einzigartig. Das wird unterstützt durch die Kostüme (Ulrich Schulz) in einer reiz- und spannungsvollen Mischung der Kostüme zwischen diesen vier Zeiten.

Der Regisseur fängt eher undeutlich an und zunächst einmal stört man sich durchaus an emotionalen Klischees. Mit der dann doch rasanten Zunahme seelischer, der Musik entsprechender Genauigkeit wirkt das fast wie eine Absicht. Auch wenn alle Protagonisten Probleme haben, die uns aufgrund ihrer geschichtlichen Konditionen fremd sein müssen, so werden sie doch wieder vollkommen natürlich und damit aktuell: Wie heute werden Menschen unvorstellbar verletzt wie Elisabeth von Philipp, Philipp von Carlos, Carlos von Rodrigo, Eboli von Carlos, usw. Dass diese Verletzungen mit ihren Folgegefühlen wie Rache, Zorn, Angst etc. dann allgemeingültig werden können, das leistet diese Inszenierung beispielhaft und spannend vom ersten bis zum letzten Takt.

Elisabeth feuert einen Stuhl durchs Zimmer und trommelt wie besessen auf Philipps Brustkorb, Eboli sticht sich in ihrer Reue auch noch das zweite Auge aus – das erste hatte sie schon als Kind verloren. Philipp lässt sich von Elisabeth fast zu einem affektiven Mordversuch provozieren. Carlos weint viel und ist immer etwas hilflos in dem Ganzen, kann aber gegenüber Philipp mal recht deutlich werden. Philipp versucht einen kleinen Aufstand gegen den Großinquisitor, den er nicht durchhält: am Ende – Carlos ist in dieser Inszenierung nicht gerettet, sondern ebenso wie Rodrigo von der Inquisition getötet – küsst er armselig und feige abhängig vom Großinquisitor den Ring. Insgesamt eine beklemmende Deutlichkeit der Emotionen und ihren entsprechenden Reaktionen.

Der Ansatz würde nicht so gut funktionieren, wäre da nicht eine überzeugende und zum Teil überragende Orchesterleistung unter der Leitung von Marc Niemann, der es verstand, die unendlich vielen Atmosphären sehr genau und immer vorwärtstreibend zu modellieren. Das Dunkel der Inquisition wirkt wie eine riesige Klammer, aus der auch die Musik mit ihren wechselnden Rhythmen und Klangfarben nicht herauskommt. Und man hörte Sängerleistungen von allen, die allein eine Reise nach Bremerhaven lohnen würden: Katja Bördner als Elisabetta, Svetlana Smolentseva als Eboli, Tobias Haaks als Carlos, Filippo Bettoschi als Posa, Leo Yeun-Ku Chu als Großinquisitor und als einziger Gast Wieland Satter als Philipp. Schade nur eins: die fünfaktige französische Fassung, die im ersten Akt die Vorgeschichte zwischen Elisabeth und Carlos erzählt und alles spätere eigentlich erst verständlich macht, ist dramaturgisch gegenüber der hier gespielten vieraktigen italienischen einfach besser.

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