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Rast bei der Pilgerwanderung: Josef Steinböck an der Tuba und Miriam Merzhäuser vom Festival Klangspuren. Foto: Astrid Karger
Rast bei der Pilgerwanderung: Josef Steinböck an der Tuba und Miriam Merzhäuser vom Festival Klangspuren. Foto: Astrid Karger
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Verschlungene Wege als Hintergrund

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Unverwechselbarer Platz in der Festivallandschaft: Klangspuren Schwaz 2007
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Was haben Hörer zeitgenössischer Musik und Pilger gemeinsam? – „Im Menschen lebt die Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei des Alltags und aus der Enge seiner gewohnten Umgebung. Immer lockt ihn das Andere, das Fremde. Doch alles Neue, das er unterwegs sieht und erlebt, kann ihn niemals ganz erfüllen. Seine Sehnsucht ist größer. Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos den ganz Anderen und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott.“
Diesen Worten von Augustinus folgt eine der spannendsten Ideen der Gestalter des jährlichen Tiroler Klangspuren-Festivals. Peter-Paul Kainrath, Maria-Luise Mayr und Reinhard Schulz haben ihre Festival-Besucher heuer schon zum zweiten Mal an einem Sonntag auf eine zwölfstündige Konzert-Pilgerwanderung an den Stationen des Tiroler Jakobsweges entlang geschickt. Diesmal war es das Teilstück von Maria Larch in Terfens bis zum Innsbrucker Dom. Es war spannend, die unterschiedlichen akustischen und architektonischen Eigenheiten der verschiedenen Kirchenräume auf dem Weg zu erkunden.

Der Lettische Radiochor ließ die müden Wanderer wieder an gleich drei der sechs Stationen mit Werken unter anderem von Gavin Bryars, Sofia Gubaidulina, Evis Sammoutis, Peteris Vasks über makellose Intonation und fein abgestufte Klangentfaltung staunen und trug wesentlich dazu bei, dass die Pilgerwanderung wieder zu einem der Hauptereignisse der Klangspuren geriet.

Der Konzertabend zwei Tage zuvor mit der Erstaufführung der fünf Streichquartette von Jörg Widmann als Zyklus in der Schwazer Kirche St. Martin wirkte atmosphärisch wie eine Auftaktveranstaltung zur Pilgerwanderung. Das Minguet-Quartett hatte überaus sorgfältig gearbeitet und setzte Maßstäbe mit seiner frischen und dramaturgisch klug durchdachten Interpretation der technisch höchst anspruchsvollen Stückfolge: Wild und ungezügelt der Parforce-Ritt im dritten, archaisch anmutende statische, sich ineinander verhakende Motive im fünften Satz – tatsächlich gelang eine Uraufführung eines völlig neu gehörten, anderthalbstündigen poetischen Werkes, die das begeisterte Publikum mit Standing Ovations feierte.

Insgesamt lag ein wichtiger Schwerpunkt des Festivals auf der zeitgenössischen Streichquartett-Literatur. Vom Quartuor Diotima über die Quartuors Bozzini und Benaim bis hin zum Arditti-Quartett reichte die Liste der renommierten Interpreten. Selten dürfte man auf einem Festival einen so umfassenden und konzentrierten Überblick über die Geschichte dieser Gattung im 20. und 21. Jahrhundert erhalten haben. Die Stücke von Lachenmann, Crumb, Cage, Boulez, Carter, Rihm zeigten ebenso wie die Ur- und Erstaufführungen dieses Genres von Misato Mochizuki, Ernstalbrecht Stiebler und Georg Friedrich Haas, wie wichtig diese „klassische“ Besetzung auch heute noch für die Weiterentwicklung von Formgestaltung und Klangsprache der Komponisten und Komponistinnen ist. Diese Art musikalischer Spurensuche ist es, die der Tiroler Veranstaltung einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der Landschaft der Festivals für zeitgenössische Musik verschafft. Nicht nur der Blick nach vorn prägt die Programmgestaltung. Auch das Nachzeichnen von kompositorischen Entwicklungen, der Versuch, die verschiedenen verschlun-genen Wege, die die musikalischen Experimente der letzten hundert Jahre genommen haben, als Hintergrund für die Uraufführungen hörbar zu machen: Dieser Anspruch der Klangspuren trägt sicherlich nicht gerade wenig dazu bei, dass die verschiedenen Aufführungen und Projekte ein sehr breites Publikum aus interessierten musikbegeisterten Laien finden. Ein Großteil der Konzerte ist ausverkauft, die Kooperationen- und Sponsorenliste hochkarätigst und die Anzahl der Neugierigen, die aus dem Nachbarland Deutschland anreisen, wächst langsam aber stetig. Dabei ist der Erholungswert der Bergregion ebenso attraktiv wie die Liste der Uraufführungen. Die Internationale Ensemble Modern Akademie hatte in diesem Jahr zu Meisterkursen mit Michael Gielen, Franck Ollu und Wolfgang Rihm geladen.

Junge Musiker/-innen aus 35 Nationen hatten sich um die begehrten Plätze beworben. Die eindrucksvolle Präsentation der Ergebnisse zeigte, dass es den Nachwuchsmusiker/-innen in der kurzen Einstudierungszeit gelungen war, die strukturellen Verläufe der Werke von Rihm und Schönberg so gut zu erfassen, dass es nicht ins Gewicht fiel, dass manches Detail im Laufe weiterer Probenarbeit sicherlich noch verfeinert worden wäre. Das vorbildliche Kinder-, Jugend- und Lehrlingsprogramm „Klangspuren barfuß“ hat inzwischen durch weitere frische und originelle Ideen einen so großen Umfang erreicht, dass ihm ein eigenes Festival-Wochenende gewidmet ist. Die Sorge, wie man das Publikum verjüngen könnte, brauchen die „Klangspurler“ ganz bestimmt nicht zu haben.

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