In Thüringen steht Richard Strauss hoch im Kurs. In der Oper der Landeshauptstadt Erfurt begann die Spielzeit mit einer eindrucksvollen „Elektra“. In der südthüringischen Theaterstadt Meiningen endet sie jetzt mit einem szenisch-musikalischen „Salome“-Paukenschlag. Das liegt natürlich in erster Linie an der genialen Musik von Richard Strauss. Der hat mit den beiden Einakter-Solitären seinen anhaltenden Ruhm begründet, was unter andere, dafür sorgte, dass ein paar Jahre später dann für seinen „Rosenkavalier“ die berühmten Sonderzüge zur Uraufführung nach Dresden eingesetzt werden mussten.
Wie seine „Salome“ aus dem Jahre 1905 heute zündet, liegt neben der Musik aber auch an der Art, wie man szenisch damit umgeht, dass eine durchgeknallte Prinzessin ihren Kopf durchsetzt, um einen gefangenen Propheten gegen dessen Willen zu küssen. Da der so fundamentalistische wie frauenfeindliche Jochanaan nicht im Ganzen als Mann zu haben ist und sich sogar weigert, sie anzusehen oder von ihr angesehen zu werden, verlangt sie seinen Kopf! Sie bekommt ihn, weil sie ihrem Stiefvater Herodes einen Blanko-Scheck für einen Tanz abschwatzt, bei dem sie für ihn ihre Hüllen fallen lassen soll.
Verena Stoiber (die das „Rheingold“ zum Chemnitzer, nur von Frauen inszenierten Nibelungen-Ring beigesteuert hatte) macht aus ihrer Meininger Neuinszenierung weder ein schauriges Historienspektakel in biblischen Zeiten, noch eine der allfälligen Therapiesitzungen, die im Missbrauch Salomes durch den Stiefvater Herodes „entlastende“ Ursachen für die Hemmungslosigkeit und Perversion dieser Obsession suchen. (Etwa so wie es in Mainz gerade durchexerziert wurde – siehe nmz vom 3.6.23)
Mit dem kühn entschlossenen Zugriff der offenen Bühne von Susanne Gschwender, jenseits des klassischen Guckkastens und den modernden Kostümen von Clara Hertel wird hier vor allem die Atmosphäre einer Endzeitstimmung (im Stück wie in der Entstehungszeit) in unsere ebenso fragliche Gegenwart projiziert.
Die sinnlich packend aufspielende Hofkapelle unter der umsichtigen Leitung von Harish Shankar ist hinter der Spielfläche auf der Bühne platziert. Von hier aus entfalten sich die verführerischen Klangbögen, die auf die (falsche) Fährte einer emotionalen Mobilmachung zielen. Hier lassen sich aber auch Details, die leicht untergehen können, hörbar herausarbeiten. Das funktioniert, obwohl es keinen direkten Blickkontakt zwischen den Protagonisten und dem Dirigenten gibt, nicht nur fabelhaft, sondern begünstigt auch die Wortverständlichkeit; auch bei den eskalierenden Streitereien der Juden, die sogar in Handgreiflichkeiten ausarten, wie man sie aus manchen „Parlamenten“ kennt. Alle diese kleineren Partien sind durchweg sorgfältig mit Solisten des Meininger Ensembles besetzt.
Eine mit fast-food überladene Tafel zum 60. Geburtstag von Herodes befindet sich in über drei Meter Höhe auf einer eingezogenen Brücke über der Bühne. Es ist als Sinnbild für kulturlose Völlerei. Unten tanzt Herodias schon leicht beschwipst vor sich hin. Zwei Bildschirme für live gedrehte Nahaufnahmen unter dieser Brücke und ein paar Stuhlreinen auf der Bühne für junge Zuschauer rücken das Geschehen nah an uns heran.
Wenn Jochanaan auftaucht wird ein Boxring an der Rampe aufgebaut, in dem es dann zur Sache geht. Als Jochanaan tritt Shin Taniguchi als kraftvoll kultiviert singender Wut-Champion mit fundamentalistischer Frauenfeindlichkeit gegen alle an. Als Narraboth (schmachtend: Alex Kim) ihn provoziert, und der Profi zuschlägt, bleibt der untrainierte Herausforderer tot im Ring zurück. Dieser Kampf ist so genau auf die Musik choreografiert, dass man sich fragt, was sonst eigentlich vor dem Selbstmord Narraboths passiert. Für die selbstbewusste Salome ist der Prophet die Herausforderung schlechthin. Ihr Dialog ist ein Kampf über mehrere Runden, bei dem Salome zu allen Mittel greift.
Hier kommt sie allerdings gar nicht erst dazu, zu tanzen. Herodes ist so aufgeputscht, dass er sich gleich zu Beginn des Tanzes abreagiert, ein Kissen vor den Unterleib drückt und daraufhin einschläft, so dass Salome den Ring verlassen kann. Der Tanz bleibt so Musik und wird zum Kopfkino – für alle auf der Bühne und im Saal. Nur Herodias tanzt immer noch über die Bühne. Deren Verhältnis zu Salome ist diesmal überhaupt auf unheimliche Weise geradezu harmonisch. Sie ist hier tatsächlich „in Wahrheit ihrer Mutter Kind“, wie Herodes meint.
Am Ende küsst Salome nicht den Kopf des Jochanaan, sondern den Pagen auf den sie ihr Begehren projiziert. Marianne Schechtel spielt ihn nicht als Hosenrolle, sondern als Frau, so dass dieser Kuss in aller Öffentlichkeit, nicht pervers, sondern allenfalls nur bemerkenswert ist. Nach Herodes’ „Man töte dieses Weib“ wird Salome auch nicht getötet – sie kann zusehen, wie oben auf der Brücke Herodias ihren Mann mit ausholender Geste absticht. Tamta Tarielashvili ist eine großartige, durchweg singende und intensiv spielende Herodias. Zusammen mit dem sehr agilen Johannes Preißinger als Herodes wertet sie das Königspaar enorm auf! So radikal wie diesmal gezeigt, ist eben auch ein Triumph der Frauen nur destruktiv. Und Salome? Ansehen wollte Jochanaan sie ja partout nicht. Vielleicht wäre die Sache anders ausgegangen, wenn er ihr zugehört hätte. Bei Dara Hobbs ist sie nämlich die reine vokale Verführung, mit mühelos aufstrahlender Kraft und betörenden Piani – eine Salome der Spitzenklasse, die eine durchweg imponierende Ensembleleistung krönt!