Mehr denn je passt Taminos Frage in der „Zauberflöte“ – O e’wge Nacht, wann wirst du weichen?“ in diese unsere finsteren Tage. So waren vorab hinter die Aufführung eines vom „Hallelujah“ geprägten Werkes wie Händels „Messias“ auch eher Fragezeichen zu machen. Doch die Neueinstudierung von David Freemans Kopenhagener Inszenierung von 2012 wurde zu einem Triumph künstlerischer Vision und glücklicher Planungsarbeit der Intendanz Loebe.
Umringt von der heilen Wolkenkratzer-Silhouette „Mainhattans“ betritt das Publikum den Theaterkomplex, darin den edlen nachtblauen Zuschauerraum – und findet auf der offenen Bühne einen Stück Aleppo oder Palmyra oder Gaza oder Mossul oder irgendeinen anderen einstigen Wohn-, jetzt entmenschten Trümmerort. Über ein Kabel zum halbintakten Lichtmast kommt noch Reststrom zu ein paar funzeligen Lampen. Doch im Weiteren macht Licht-Zauberer Wolfgang Göbbel den Trümmerraum mal wie durch Morgen- und Abendsonne, dann aber auch wie vom Licht und Dunkel der Musik erfüllt sichtbar. Zum „Grave“ und „Allegro moderato“ der Ouvertüre schleppt sich dann aus den Seitentüren ein Flüchtlingspulk in die vermeintliche Sicherheit des Bühnenraumes – und wenn sich der durch über 25 Jahre Bühnenexperimente gereifte australische Regisseur David Freeman 2012 vom Bosnien-Krieg zu den folgenden 105 pausenlosen Minuten „gezwungen“ sah: unsere Welt gleicht 2016 dieser Szenerie von Ausstatter-Duo David Roger und Louie Whitemore mehr denn je – erfüllt von Not, Elend, Verzweiflung, schwachem Trost, posttraumatischen Reaktionen bis zu blutiger Gewalttätigkeit – und dem Aufleuchten eines humanen „Dennoch!“ – gipfelnd in jenem zeit- und grenzenlos gültigen „Kommet, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken“.
All das führt ein menschliches Kollektiv in schlaglichtartig aufeinander folgenden kleinen Szenen vor. Da singt ein zarter Tenor „Comfort Ye – Tröstet Euch“. Da wird ein Kind geboren und erhellt die Düsterkeit. Eine pastose Altstimme verheißt den Frieden einer weidenden Herde. Doch männliche Aggression führt zu Waterboarding, blutiger Folter, Verhöhnung, Dornenkrönung und bejubelter Kreuzigung des „Feindes“ am Lichtmast: „Gott soll ihn retten“. Die Hoffnung auf den Sieg des humanen Kerns der Religion gipfelt in einem „Hallelujah“ des zögerlichen Vorwärtsschreitens – und wird von einem ohrenbetäubenden Kriegseinbruch konterkariert, in dem die zuvor verzichtbare Videotechnik fulminant wirkt. Inmitten von Rauch, Schutt und scheinbar Toten steht dann plötzlich ein Kind auf, dessen Sopran inmitten des Chaos wie ein Kerzenflämmchen aufleuchtet. Ein Regenschleier im Hintergrund klärt die wüste Atmosphäre mit der Hoffnung eines Weiterlebens: Frontal zum Publikum bekräftigt dies der Menschenpulk mit einem vielfachen „Amen“ – und geht dann doch in ein ungewiss dunkles Anderswo davon.
Von keinem Individuum muss letztlich die Rede sein. Die sechs Solisten verwirklichen mit den über dreißig Frankfurter Chor-Solisten das Ideal Walter Felsensteins: ein bruchloses Kollektiv in Aktion und Gesang – da steigt mal der herrliche Bass eines Farbigen auf (und hinterher schlug man Vuyani Mlinde nach) ; da beruhigt ein fraulicher Alt (und im Programm stand Katharina Magiera); da duettieren zwei Soprane (Elisabeth Reiter, Juanita Lascarro) lieblich um Geburt und Leben – und immer wieder vereinen sich vokale Gruppen zur Fülle eines großen Ganzen.
Aus dem zunächst beeindruckt starken Beifall stiegen am Ende dann doch Bravo-Rufe auf, denn Choreograph Julian Moss und vor allem Chordirektor Tilman Michael hatten Seltenes erreicht: das nahtlose In-und Miteinander von Typen, Rollen, Schicksalen, Entstellungen, Charakteren und Reaktionen. Das sich das alles so entfalten konnte, war Dirigent Markus Poschner zu danken: Experimenten freudig zugetan und durch das Modell der Komischen Oper Berlin mitgeprägt, nahm er Laute, Orgel und Frankfurts musikalischen Studienleiter Felice Venanzoni am Cembalo mit ins Orchester. Händels szenisch-dramatischen Gestus in der von Regisseur Freeman erstellten Fassung traf Poschner mal scharfkantig, mal weich aufblühend, mal Presto-fulminant. Seine klare Zeichengebung führte den mit vielfach fugierten Einsätzen musikalisch und zusätzlich szenisch geforderten Chor beeindruckend. So wuchs - ohne auch nur einen Hauch von Betroffenheitskitsch und Weihrauchnebel - ein musikdramatisches Oster-Mahnmal künstlerisch zusammen: dass es da eine „Weisheit“ gibt, jenseits von „Stärke und Reichtum und Hoheit und Macht und Ehre“.