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Luciano Pinna im Bühnenbild der Inszenierung von Pencil vs Pixel. Foto: Pinna

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Von neuen Erzählformen und neuen Zielgruppen

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Der Komponist Mathis Nitschke und der Medienkünstler Luciano Pinna im Gespräch
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Mathis Nitschke ist Konzeptkünstler, Komponist und Theatermacher. Er kreiert europaweit Opern und Musiktheater, Installationen, Filme und Konzerte. Mit seinem Designstudio Sofilab entwickelte er unter anderem die App „Vergehen“, eine GPS gesteuerte Oper, die man sich erläuft. Im Oktober 2017 wurde in der Ruine des ehemaligen Heizkraftwerkes München-Aubing die Augmented Reality Oper „MAYA“ uraufgeführt. Damals ein echtes Novum. Luciano Pinna ist Konzeptkünstler und AR-Designer, dessen Projekte weltweit gezeigt und aufgeführt werden.

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neue musikzeitung: Um was geht es bei VR und AR?

Mathis Nitschke: VR nimmt Dich aus der realen Welt heraus während AR der realen Welt eine Ebene hinzufügt, die vielfältig gestaltet sein kann: Visuell, auditiv, informativ, geruchlich, körperlich.

nmz: Sind VR und AR eher Effekte, Add-on, Gimmicks oder doch das klassische Bühnenformat der Zukunft?

Nitschke:  Das kann alles sein und hängt vollständig von der individuellen Produktion ab. Auch Gimmicks können im stimmenden Kontext richtig sein. Die Technologie als solche ist neutral. Es ist deren Anwendung und Einbindung, die sie entweder interessant macht oder überflüssig. Auf jeden Fall kann man doch sagen, dass Oper immer nach den neuesten sensorischen Reizen geforscht und sie sofort eingesetzt hat. Es gibt keinen Grund, warum Oper sich nicht mit VR und AR beschäftigen sollte.

Luciano Pinna: Als Künstler und Musiker ist es interessant und wichtig, diese Technologien zu erforschen. Natürlich aus einer erfahrungsorientierten Perspektive. Sie ermöglichen neue Wege, (vertraute) Geschichten zu erzählen. Es gibt auch gesellschaftliche Perspektiven: Es ist eine (sehr große) Veränderung, dass diese Technologien die Art und Weise verändern, wie wir unser Leben leben und miteinander kommunizieren. Denken Sie an das Smartphone. Persönlich finde ich es wichtig, dass neben Technikern und Politikern auch Künstler an diesen Diskussionen beteiligt sind, da sie auf einzigartige Weise diese Technologien einem größeren Publikum zugänglich machen.

nmz: Ist AR ein neues Format oder nur eine Erweiterung klassischer Formate?

Nitschke: Ich glaube, dass man zu besseren Ergebnissen kommt, wenn man nicht den Ansatz fährt, die klassischen Formate mit den neuen Technologien aufzuhübschen. Die Chance ist, dass die Technologie wirklich interessante grundsätzliche Fragen stellt. Was ist eigentlich Realität? Zumal diese Frage doch besonders interessant ist im theatralen Umfeld, wo wir die Frage sowieso ständig stellen.

Ich glaube an den Ansatz, dass man nach neuen Formaten suchen sollten, die Partizipation im ungezwungenen Umfeld erlaubt. Wir Menschen wollen uns gerne über unsere Eindrücke austauschen, also sollten die Leute auch miteinander reden können (wie früher in der Oper, habe ich mir mal sagen lassen...).

Die Menschen sollten explorativ tätig werden können. Neugier und Entdeckerfreude sind elementare Bestandteile nicht nur für die Arbeit mit den Technologien, sondern auch in der Begegnung mit ihnen als Publikum. Ich habe bei MAYA unsere Nutzung der Smartphones gerne als „magisches Vergrößerungsglas“ bezeichnet.

Wenn man solche Fragen konsequent zu Ende denkt, dann kommt man z.B. bei solchen Formaten wie „Symbiosis“ raus. Oder eben „MAYA“. Ich finde, wir haben da einige mögliche Antworten so gut ausprobiert, dass sie immer noch gültig sind.

Pinna: Wie viele Jahrhunderte dauert die Musik- und insbesondere Operngeschichte? Wie viele Jahre gibt es Fotografie und Film? Die Entstehung künstlerischer AR-Erlebnisse begann vor etwa 25 bis 30 Jahren. Das ist nichts im Vergleich zu den anderen Medien. Dies sind die ersten Experimente mit möglicherweise grundlegend neuen Möglichkeiten, die Welt zu erleben. Vielleicht ist die nächste Stufe dieser Technologien nötig, um die Dinge wirklich zu verändern. Aber wir müssen jetzt anfangen, um zu sehen, wo wir in den nächsten 25 Jahren sein wollen.

nmz: Welche Rolle spielt das Publikum: neue Hör- und Seh-Kompetenz nötig?

Nitschke: Eine neue Kompetenz ist sicher nicht nötig. Das Publikum lernt die nötigen Kompetenzen so wie in einem Spiel beim Spielen. Wenn es dem Publikum nicht möglich ist, die nötigen Kompetenzen bei der Erfahrung selbst sich anzueignen, dann ist die Experience schlecht konzipiert. Die AR-Technologie ermöglicht es, das Publikum ganz anders in das Spielgeschehen einzubinden und sie zu aktiven Teilnehmern zu machen statt nur passiver Konsumenten. Diese aktive Rolle sollte immer freiwillig bleiben, ist aber diejenige, die einem die neuen Ebenen aufschließt.

Pinna: Wie oben erwähnt, besteht ein Teil der Erfahrung darin, die Nutzung der Technologie in Frage zu stellen. Schaue ich beispielsweise über ein Smartphone und sehe die vollständige Augmented-Oper oder schaue ich direkt ohne Bildschirm? Ich muss eine Entscheidung treffen, die an sich interessant ist. Dies wird umso mehr betont, als wir bereits im Alltag mit einem Smartphone vor dem Gesicht herumlaufen. Für dieses neue Publikum wird es selbstverständlich, die Welt über mehrere „Schnittstellen“ zu erleben.

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Mathis Nitschke. Foto: A. Ackermann

Mathis Nitschke. Foto: A. Ackermann

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nmz: Welche Projekte stehen bei Ihnen an? Individuell oder als Team?

Nitschke: Als inszenierender Komponist bin ich derzeit nicht sonderlich aktiv, da ich etwas erschöpft bin vom erfolglosen Einwerben von Fördergeldern im anspruchsvollen Maßstab. Die Theaterarbeit mit neuen Technologien wird schnell sehr teuer, wenn man sie so seriös betreiben will, dass etwas Großartiges dabei rauskommen kann. Das Vertrauen aber, dass ein im Verhältnis zum finanziellen Aufwand stehendes großartiges Ergebnis entstehen kann, ist derzeit leider nicht gegeben. Zu frustriert sind die Jurymitglieder von nicht funktionierenden oder billig anmutenden digitalen Projekten. Ich kann es ihnen nicht vorwerfen, ich teile sogar die Erfahrung. Bereits vor Covid war die Reputation digitaler Projekte gering, jetzt nach der durch Covid begründeten Schwemme erst recht. Ich wollte immer beweisen, dass es auch anders geht, aber offensichtlich hat es noch nicht gereicht. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt.

Pinna: Wie schon erwähnt habe ich mit Mathis an zwei Projekten gearbeitet: der AR-Oper Maya und dem KI-Forschungsprojekt Lure.

Dieses Jahr habe ich mit der Choreografin Jasmine Ellis am Projekt Reality Warping gearbeitet. Es handelt sich um eine Tanzperformance, die mithilfe künstlicher Intelligenz, Projektionsmapping und Live-Musik Realität, Wahrnehmung und soziale Konstrukte in Frage stellt. Dort verwendete ich zwei Projektionsflächen, zwischen denen vier Tänzer auftraten, wobei jeder Tänzer ein Smartphone nutzte, um sich selbst und den anderen zu filmen. Die Premiere fand im Juni in München im HochX Theater und in der ARGEkultur Salzburg statt.

Ein weiteres Projekt, das dieses Jahr im SXSW Austin, Texas gezeigt wurde, ist Symbiosis, eine performative, multi-user- und multisensorische VR-Installation des niederländischen Künstlerkollektivs Polymorf. In Symbiose wird der menschliche Körper neu gestaltet. Ein Teilnehmer wird in eine maßgeschneiderte Suite gebracht und erlebt eine spekulative Geschichte über das Leben als symbiotisches Wesen in VR durch Ton, Bild, Druck, Geruch und Essen. 

Letztes Projekt, die Augmented-Reality-Oper Antigone Exp. No 2 des Musiktheaterkollektivs AGORA. Darin wird das Publikum Teil einer Chorszenografie und ist eingeladen, sich frei zu bewegen oder einem bestimmten Protagonisten mit dem eigenen Telefon zu folgen. Das Besondere hierbei ist, dass alles von zwei Kameramännern live gefilmt wird (mit AR on top) und das Publikum live in die Oper schauen oder über sein Smartphone schauen kann, was gefilmt wird. 2022 im Theater im Delphi, Berlin und Gare du Nord Basel gezeigt.

nmz: In welcher Art und Weise treffen Komposition, Regie und Technik aufeinander?

Nitschke: Komposition, Regie und Technik müssen von Anfang an gleichzeitig gedacht werden. Nur wenn die gewählte künstlerische Form die Technik existentiell nötig hat, wird etwas Spannendes entstehen. Andersherum darf sich die Kunst natürlich nicht die Grenzen seitens des aktuellen Stands der Technik vorschreiben lassen. Dann muss man kreative Auswege finden und das sind dann meiner Erfahrung nach die Abzweigungen, die interessant werden, dann betritt man neues Terrain.

Pinna: Ich stimme Mathis hier voll und ganz zu. Es beginnt und endet mit dem Erlebnis. Gleichzeitig kann durch die Erforschung von Technologie ein Konzept (weiter)entwickelt und neue Wege entdeckt werden. Im Schnittpunkt zwischen den Disziplinen werden die Dinge interessant, wenn die Dinge aufeinanderprallen, kann sich die Essenz der Erfahrung manifestieren.

nmz: Sie haben erwähnt, dass die Finanzierung eine größere Herausforderung darstellt, als bei konventionellen Produktionen. Inwiefern?

Nitschke: Großes Problem. Ich ver-stehe aber auch die Geldgeberseite. Warum sollte man ein paar hunderttausend Euro in ein Projekt stecken, das nur wenige Male ein begrenztes Publikum finden wird? Eigentlich bräuchte es Skalierungsmöglichkeiten wie im Film, damit Fördermöglichkeiten wie im Film möglich werden. Aber dann müsste man sich vermutlich von Live-Akteuren verabschieden und dann hat man kein Menschentheater mehr. Ich habe so ein paar Ideen, die in Richtung interaktives Live-Kino gehen. Aber im Herzen bin ich halt doch Theatermacher im Sinne Peter Brooks: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. ein Mensch geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Man braucht Mensch und Raum für Theater, keine Leinwand. Schwerlich skalierbar.

Pinna: Es kann eine Herausforderung sein. Gleichzeitig ist es wichtig, neue Zielgruppen zu gewinnen, neue Wege zum Erzählen von Geschichten zu finden und die Auswirkungen dieser Technologien zu erforschen.

Nitschke: Möglicherweise verändert sich aber derzeit die Kostenstruktur für digitale Projekte fundamental. Im Winter werde ich ein digitales Projekt entwickeln, das ich diesmal dediziert mit Unterstützung von ChatGPT statt eines (berechtigt) teuren Entwicklers prototypen werde. Gerade die Konzeptphase ist ja mit viel Ausprobieren und Verwerfen verbunden, womit man als Künstler Entwickler schnell in den Wahnsinn treibt und die Kosten explodieren lässt. Bin gespannt, wie sich das anlässt. Schon möglich, dass sich schon in wenigen Jahren ein digitales künstlerisches Projekt mit wesentlich geringeren Kosten realisieren lässt. Das Vorgehen würde dann auch wieder besser in die existierenden Fördersysteme passen.

nmz: Wird die Repertoireoper dank dem Einsatz von AR und anderen Technologien nicht zur Filmmusik degradiert?

Pinna:  NEIN. Falsche Frage auf so vielen verschiedenen Ebenen.

Das Gespräch führte Andreas Kolb

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