Hauptrubrik
Banner Full-Size

Wandern, sich umwenden, horchen

Untertitel
Musica viva: Wolpe im Jubeljahr, mit Feldman & Fiorituren
Publikationsdatum
Body

Seine Sätze schneiden scharf durch die Phänomene, legen prismatisch glitzernde Flächen frei. Stefan Wolpe, Wurzelexponent der 20er-Jahre, brillant verstörender Komponist und Essayist, ist zu wenig bekannt. Weit erscheint noch immer der Heimweg von Amerika nach Europa. Zwei Schlüsselwerke in zwei Konzerten? Das ist jedenfalls besser als totes Schweigen, und es verspricht noch mehr, wenn das umschlingende Programm Luftwurzeln in die Gegenwart bohrt und sich an literarischen Elixieren berauscht.

Seine Sätze schneiden scharf durch die Phänomene, legen prismatisch glitzernde Flächen frei. Stefan Wolpe, Wurzelexponent der 20er-Jahre, brillant verstörender Komponist und Essayist, ist zu wenig bekannt. Weit erscheint noch immer der Heimweg von Amerika nach Europa. Zwei Schlüsselwerke in zwei Konzerten? Das ist jedenfalls besser als totes Schweigen, und es verspricht noch mehr, wenn das umschlingende Programm Luftwurzeln in die Gegenwart bohrt und sich an literarischen Elixieren berauscht. Sippál, dobbal, nádihegedüvel“, zu deutsch: mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen ging es los – und mit einer fabelhaft szenischen Stimme, die sich ins Gedächtnis grub. Katalin Károlyi hat Brustresonanzen wie Glocken und Koloraturen, bei denen es einen vor Freude überläuft. György Ligeti schrieb ihr nach Texten von Sándor Weöres einen Liederzyklus auf den quecksilbrigen Leib, in dem sie alles sein darf: wild brüllende Löwin, prächtig schriller Papagei, rezitatorisch beschwörende, Fabelwelten gebärende Zauberin. Sie ist absolut präsent. Eine Königin, der man dienen muss. Das Percussion Art Quartet vermochte es zu wenig, versank zeitweise in seinen Parts, kaum überschauend, was es hervorbrachte. Vorsichtig wie saure Zitrone schmeckte es den Klang von Mundharmonikas, der doch traumhaft süß sein sollte…

Ensuite verdammte James Dillon ein überraschtes Akkordeon zu alptraumhafter Zickzackrhythmik, von der melodische Schuppen abfielen. Ein Gewisper, Geschwatze, raffiniert – Teodoro Anzellotti griff es an mit spitzen Fingern, die es nicht so zu lieben schienen wie das Folgestück, in dem zu gestauchten Bordunbässen und klingenscharfen Pfeiftönen die Lunge des Instruments sich entfaltete – und auch das noch nicht so sehr wie die Musik von Christian Wolff. Wandern, sich umwenden, horchen und die Welt entdecken wie ein Weiser, wie ein Kind: vollendet rein fand sich das in „Balancing“. Friedfertig lächelnde Klänge, willenlos, frei. Selbst das zuckende Klappern der Tasten kannte keine Nervosität.

Selten ist die von John Cage geforderte „Feier dessen, dass wir nichts besitzen“ so einfach, so lebensfreundlich wie in den Klangreliefs des humanistischen Experimentators Christian Wolff, des Jüngsten aus der „New York School“. In seinem indianischen Gedicht „She had some horses“ für Saiteninstrumente wurden abstrahierte Gesten mit Leidenschaft, Staunen und Verwandlungskraft einander zugespielt: bei geschlossenen Augen hörte man Harfe, Koto, Gitarre, Mandoline, aber immer war es das Instrument des Zitherpioniers Georg Glasl, das spröd reibend die Konsonanzen von Kelvin Hawthornes Bratsche unterlief.

Schweigen danach genügte als Nahrung, bis, gerufen vom Stab des Dirigenten James Avery, das Hauptwerk am Nachthimmel aufging: Stefan Wolpes „Enactments for Three Pianos“ mit Josef Christof, Irmela Roelcke und Benjamin Kobler an spitz zusammenstoßenden Steinways. Ein Silbersaiten-Katarakt, ohne Grenze, ohne Ende. Tausend girrende, klirrende Silbervokalisen, in denen Bilder explodieren. Da schürft einer im Berg, spreißelt Kristalle ab. In unfassbarer Werkherrlichkeit wird Akkorden, Rhythmen, Klängen zu Leibe gerückt, und es ist ein liebendes Umfangen. Abstraktion wird gegenständlich, wird sinnlich: zur Wandlung des edlen Materials pocht ein vogelwildes Uhrwerk, bis es zerschellt; ein trügerisches Fugenthema nimmt Anlauf, springt violett über Tiefen, landet feuerrot. Und die Schlüsse reißen so präzis ab, dass Pedale schier eigene Instrumente sind.

Wolpes bekanntester Schüler Morton Feldman taucht ein Jahrzehnt später in seinen „Two Pieces for Three Pianos“ weiter in den Klanggrund hinab, der jetzt meerblau ist. Steine kommen von oben, gleiten vorbei, versinken in bodenlose Tiefe – mineralische Klangboten, immer anders in Farbe, Form, Rauheit und Glitzern. Jeder einzelne von ihnen ist schärfster Protest gegen die totalitären Illusionen des musikalischen Minimalismus. Der leuchtende Wasserspiegel droben ist die – von jedem Akkord neu durchstoßene – Stille.

Was im Carl-Orff-Saal glückte: Wolpe und Feldman als komplementäre Temperamente zu begreifen, das geriet im korrespondierenden Orchesterkonzert zur drohenden Herkules-Aufgabe, die nicht erleichtert wurde, als Nicolaus Richter de Vroe zwischen den Gegensätzen einen Wartezimmerteppich ausbreitete. Gröber, grauer war der gewirkt als die subversiven, flugbereiten Verse des Dichters Daniil Charms, welche kaum mehr als den Vorwand für ein Défilé sündhaft unterforderter Solisten abgaben: redlich bediente Isao Nakamura das polyglott gehäufte Schlagwerk, in geduldigem Understatement fiedelte Irvine Arditti, zog Mike Svoboda gar vom Geisterbläserchor umgeben in den Saal – und vermochte als einziger zu singen, mit einem Vibrato pianissimo, vor dem die groteske Kleinmalerei der Vokalistin Isabeella Beumer erbleichte.

Zuvor hörte das nervöse Publikum die „Sinfonie Nr. 1“ von Stefan Wolpe und ahnte, welche Kraft darin haust: ein Idiom, das von Mahler und Webern so weit entfernt ist wie von Gershwin und Bernstein oder Eisler und Weill, etwas, das nicht verglichen, nicht entschuldigt sein will und dessen Aufführung mehr sein muss als eine lau gefühlte Pflicht. Johannes Kalitzke hat vor Jahren das Werk überzeugend interpretiert, nur leider den dritten Satz gekürzt – dieser Strich wurde jetzt aufgemacht. Und dennoch kam der Schmetterling nur halb aus dem Kokon: Peter Rundel hielt Kostbares in der Schwebe, erfand Klangblitze wie Ariosi – aber der aufgipfelnd zerschellende Schrei unendlich-frecher Melodik will mehr; und so sträubten sich Lastkahn-Sirene und hölzernes Gelächter gegen die stille Noblesse eines Meisters, dessen nachdenklicher, mit der Taktstockspitze von den Rückenwirbeln her ausholender Schlag etwas liebenswert Verspieltes hat. Leicht, vielleicht zu leicht ließ er zum Abschluss Morton Feldmans „Coptic Light“ dahinströmen – wer die Ohren spitzte, mochte gleichwohl das Ideal des Stückes erkennen: wie sich da der Blick wieder emporkehrt zur spiegelnden Oberfläche, zum Schleier der Maja. Und hinter dem letzten Wellenschlag ist keine andere Welle mehr, nicht Licht noch Dunkel, sondern ein lauter Nichts.

Der Bayerische Rundfunk sollte hellhörig werden, sollte verlangend innehalten und einen Wolpe-Feldman-Zyklus riskieren. Oder kommt dieser Wunsch ein Menschenalter zu früh? Feldman hat hier – was ein Glück ist – eine gewisse Tradition. Wolpe – man begreife es als Chance – hat keine. Sein Werk ist ein Kontinent, und ist nicht nur Werk, sondern Dialog, Engagement, Aufforderung. Viel mehr wäre noch zu entdecken.

In Essen gibt es ein Wolpe-Trio, das sich dezidiert für Musik der Gegenwart einsetzt. Wurde es schon einmal nach München eingeladen? Ich weiß es nicht. In Amerika sind noch Wolpe-Schüler am Leben und vermitteln die undogmatische Ernsthaftigkeit ihres Lehrers an eine junge Generation. Unruhiger Geist wird in Sternfunken fortgezeugt. Man muss nur wach sein, sie zu sehen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!