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Kürzlich auf Ibiza: Die russische Investorin Wallis Giunta (Natalya Ostrova) und der Kanzler (Daniel Schmutzhard).  Foto: Barbara Pálffy/Volksoper Wien
Kürzlich auf Ibiza: Die russische Investorin Wallis Giunta (Natalya Ostrova) und der Kanzler (Daniel Schmutzhard). Foto: Barbara Pálffy/Volksoper Wien
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Was ist Wahrheit?

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An der Volksoper in Wien inszeniert Lotte de Beer „Die letzte Verschwörung“ von Moritz Eggert
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Bei dem Titel „Die letzte Verschwörung“ könnte man meinen, dass es heute schon konspirativer Energie bedarf, um dem Zeitgeist eine Operette abzuringen. Doch ganz so schlimm ist es nicht. Im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz etwa fügte der komponierende Tenor Daniel Behle Anfang des Jahres mit „Hopfen und Malz“ dem überständigen Genre ziemlich überzeugend eine Novität hinzu. 

Moritz Eggert nennt sein jüngstes Werk, das er für die Volksoper getextet und komponiert hat, vorsichtshalber Mythos-Operette. Wenn er es dystopisches Musiktheater nennen würde, läge er aber auch nicht falsch. Für eine herkömmliche Operette sind die Gewichte zwischen eingängigen Melodien, einer Liebesgeschichte und dem speziellen Blick auf die Wirklichkeit, die dieses Genre von jeher bietet, zu eindeutig in Richtung von zeitkritischem Ehrgeiz verschoben. Also den Verwerfungen der Gegenwart dicht auf den Fersen. Was kein Nachteil ist und mit Publikumszuspruch honoriert wird. In der Inszenierung der neuen Volksopern-Intendantin Lotte de Beer finden Angehörige aller Generationen auf der Bühne Anknüpfungspunkte in ihrer Lebenswirklichkeit. Eggert selbst ist mit von der Partie, als sonor raunende Stimme aus dem Off. Er gibt den Reiseleiter in die Welt der alternativen Fakten, also in jenes Paralleluniversum, zu dem in jüngster Zeit auch das Weiße Haus gehörte.

Schon mit dem Plot geht Eggert in die Vollen; greift ziemlich hemmungslos auf bewährte dystopische Muster zurück. Von Capeks „Der Krieg mit den Molchen“ über die „Welt am Draht“ von Fassbinder, „Titus Andronicus“ oder „Sweeney Todd“ bis zur „Begegnung der dritten Art“. Dazu die Narrative der Querdenker vom deep state und den unterkellerten Pizzerien, in denen eine ominöse Elite Kinder zu Nahrungsmitteln verarbeitet. Aus all dem entsteht ein surreales szenisch-musikalisches Crescendo mit erheblichem Unterhaltungs- und Erkenntniswert. Dabei übertreibt er zumindest für mitteleuropäische Verhältnisse deutlich, lässt aber die Verbindung zu realen Phänomenen immer noch erkennen. Extrem bei den Flat-Earthern, für die die Erde nach wie vor eine Scheibe ist. Besser nachvollziehbar mit seiner zentralen Figur, dem Fernseh-Moderator Quant (mit eloquenter Prägnanz: Timothy Fallon), mit dessen Talkshow „Immer wieder Mittwochs“ die Exkursion nach Absurdistan beginnt, und in der schräge Querdenker als Gäste die Quoten hochtreiben.

Dem missionarischen Studiogast Urban (Orhan Yildiz) gelingt es freilich, assistiert von seiner attraktiven Helferin Lara (vokal etwas unterdimensioniert: Rebecca Nelson), in Quants Denken einzudringen und dessen Koordinaten zu verändern. Und zwar so drastisch, dass er sowohl im Beruf wie daheim aus der Bahn und in eine veritable Krise geschleudert wird. Dass sich der Schwurbler Urban als FBI-Agent entpuppt und Ehefrau Elisa­beth (Sofia Vinnik) und die Kinder Sarah (Alma-Marie Sommer) und Philipp (Konstantin Pichler) daheim den Mann und Vater nicht mehr erkennen und er von dessen Freund Binder (Aaron Pendleton) „ersetzt“ wird, ist nur ein weiterer Schritt auf dem Pfad in den Irrsinn. 

Alsbald sind nur noch die einschlägigen Übermächte am Werk, gegen die Quant und Lara zu kämpfen beginnen. Sie dringen dabei bis in die Villa des Kanzlers (Daniel Schmutzhard) vor, der es gerade mit einer russischen Investorin treibt (Achtung: Ibiza-Videos). Beide stellen sich als Reptilien-Aliens heraus, die längst die Welt beherrschen und sich mit geheimen Handzeichen (als wären sie Vulkanier) verständigen. Als Quant und Lara die beiden Promi-Molche erschießen, schwebt ein Ufo ein und entführt sie. Den vorgesehenen Befruchtungsexperimenten entkommen sie und landen genau in der Pizzeria, in der man, wenn man eine Kinderportion bestellt, wortwörtlich eine solche auch bekommt. …Als sich obendrein auch noch Quants Chefin Georgina von Solingen (Annelie Sophie Müller) als Teil dieses Pizza-Gate entpuppt, erschießen sich Quant und Lara lieber. 

Wobei Quant in irgendeinem digitalen Irgendwo wieder erwacht und ihm eine Stimme erklärt, dass sein bisheriges Leben nur eine Computersimulation war. Doch als Lara als Android gewordenes System auftaucht, kann er nicht glauben, dass das wirklich die letzte Verschwörung war. Recht hat er, denn plötzlich greift von der Seite die Regisseurin ein. Ob die Antwort auf die Frage, was Wahrheit ist, wirklich lautet: Alles nur Theater, das mag man nach dieser Entführung ins Paralleluniversum nicht mehr entscheiden. 

Lotte de Beer hat das mit sicherem Instinkt für die rechte Mischung aus flottem Timing, Show und Hintersinn im Bühnenbild von Christof Hetzer, das zwischen Idylle und Kulissenversatzstücken changiert, und mit den fantasievollen Kostümen von Jorine van Beek (besonders für die Aliens) ausgestattet ist, in Szene gesetzt. Eggerts Musik setzt auf ein  vorwärtstreibendes Parlando, aus dem sich hin und wieder melodisch Arioses erhebt und mit anverwandeltem Walzertakt und spätromantisch grundiertem Dräuen spielt.  Dem nehmen sich Steven Sloane und das Orchester mit sensibler Verve an.

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