Mit 60 Jahren Bundesrepublik und Grundgesetz feiern wir gegenwärtig die beispiellose Wandlung der Deutschen nach zwölf Jahren totalitärer Nazidiktatur, Barbarei, Massenmord und Kriegsvernichtung zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern einer freiheitlichen, sozialen Demokratie. Die Schnelligkeit und Nachhaltigkeit, mit der dieser Sinneswandel zu einem heute – bei allen Herausforderungen und Problemen – in seinen Grundfesten gestärkten Staats- und Gemeinwesen führte, wäre nicht möglich gewesen ohne das Wiedererstehen der Deutschen als Kulturnation. Neben der Pflege überkommener Traditionen gehört dazu in erster Linie die Förderung und Auseinandersetzung mit den aktuellen künstlerischen Produktionen und Entwicklungen als einem zentralen Medium von Erfahrung, Reflexion und kritischer Selbstbespiegelung.
Die während des Dritten Reichs als entartet verunglimpfte Kunst und Musik sowie die in den 1950er- und 1960er-Jahren entstandene Neue Musik, die neben Jazz, Elektronik und Fluxus auf massive Vorbehalte stieß, leisteten einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung in der BRD, der sich kaum messen, aber immerhin erahnen lässt. Immerhin unterstrich Bundesinnenminister Otto Schily 2002 die Bedeutung der Musik mit der Gleichung: „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit“, was ihm umgehend den Titel „Klavierspieler des Jahres“ eintrug.
So wie der Regierungsvertreter damals darauf reagierte, dass die Rezession nach dem Platzen der Technologie-Börsenwerte auf die öffentlichen Haushalte durchschlug, kommt auch jetzt mit einjähriger Verzögerung die weltweite Banken- und Wirtschaftskrise bei den Ländern und Kommunen an. Auch die gegenwärtig zunehmend partikularisierte Gesellschaft bedarf kultureller Leistungen dringlicher als sozialer. Dass das eigentliche Fundament einer Gemeinschaft Kunst, Kultur, Musik bilden, ist keine bloße Leerformel politischer Sonntagsreden. Es ist im Gegenteil die vielerorts gelebte tägliche Praxis zahlloser Kulturschaffender und Kulturinteressierter, insbesondere auch derjenigen, die als Komponisten, Interpreten, Veranstalter und Hörer mit der Präsentation und Rezeption von Uraufführungen individuelle und soziale Erneuerungsfähigkeit unter Beweis stellen.
Wie viel Unruhe wohl die im Oktober anstehenden Uraufführungen in die Ordnung der rundumverwalteten Krise bringen werden?
Weitere Uraufführungen
06.10. Thomas Larcher, Böhmen liegt am Meer. Kölner Philharmonie
09.10.: Enjott Schneider, Die Seligpreisungen in memoriam Leipzig 1989, Nikolaikirche Leipzig
08.–11.10.: musikprotokoll Graz mit Uraufführungen von Johannes Maria Staud, Olga Neuwirth, Mauricio Sotelo, Germán Toro-Pérez, Bernhard Gander, Bernhard Lang
09.10.: Neue Stücke „into Pearl River Delta“ von Unsuk Chin, David Fennessy, Heiner Goebbels, Benedict Mason, Johannes Schöllhorn, Konzerthaus Berlin
14.10.: Lucia Ronchetti, Andreas Dohmen, neue Werke für die Vocalsolisten Stuttgart, Theaterhaus Stuttgart
16.–18.10.: Donaueschinger Musiktage mit fünfzehn Uraufführungen
23.10.: Uros Rojko, Der Ritter, den es nicht gab – Musiktheater für Kinder und Erwachsene, Theater im Marienbad Freiburg
25.10.: Chaya Czernowin, Algae – Monodram für Bass und Klavier, Transit-Festival Leuven
27.10.: Jean-Luc Fafchamps und Joëlle Tuerlinckx, Carte noire /carte blanche, akustisch-visuelle Inszenierung, Alte Feuerwache Köln
28.10.: Wilfried Hiller, Eurydíke – Mythologische Szene, Die Glocke Bremen
31.10.: Tobias PM Schneid, vertical horizon III für Oboe, Max-Joseph-Saal München