Der Bariton Georg Nigl putzt und wischt den Raum, zirkelt die Blumen auf dem Tisch: jetzt in der opera stabile eine zu Recht bejubelte Uraufführung „Die Kreide im Mund des Wolfs“, Musiktheater für Stimme und Ensemble, so der Untertitel des Auftragswerkes der Staatsoper Hamburg. Dem Komponisten Gordon Kampe und Nigl gelingen an den von Dieter Sperl ausgewerteten 31 Reden von Wladimir Putin ein unvorstellbares Maß an Zwischentönen. Damit wird erreicht, dass eine politische Rede, welche auch immer, mindestens eine zweite Ebene hat: die wahre innere Psyche des Redners.

Georg Nigl in Gordon Kampes Oper „Die Kreide im Mund des Wolfes“ an der Staatsoper Hamburg. Foto: Jörg Landsberg
Wenn der Putin Bariton heißt – Gordon Kampes „Die Kreide im Mund des Wolfs“ in Hamburg
Und da ist Putin eben nicht nur brutal, sondern auch ängstlich, ja angstbesessen, verführerisch, bittend: dolce, brutal, irre, bizarr, zart, zarenhaft, pampig, diebisch, imposant, hinterhältig, lügend sind nur einige der Interpretationsanweisungen. Der Sänger gerät auch in Verfolgungswahn: von der Decke tropft es, ein Telefon klingelt und ein kleines Feuerwerk explodiert. Am Ende stürzt alles zusammen, woraus Putin sich erneut putzend und pfeifend herauswindet.
Sperl entwirft zunächst einmal die Texte bis zu zehnfacher Wiederholung. Das gibt Kampe die Möglichkeit, die unterschiedlichen psychischen Zustände mit immer neuer, manchmal nur geringfügig veränderten Musik auszustatten: komisch, flüsternd, pfeifend, bettelnd, demütig, satirisch, immer aggressiv, … „Die Mauer ist vernichtet“, „ich möchte, dass Ihr mich hört … mich hört, hört, hört“, „...nie ein Vertrauensklima“ bring ihn zum Weinen. Und zum Völkerrecht brüllt er „Was verletzen wir angeblich? Was, was was?“ Manchmal verhaspelt er sich und kriegt einige Wörter überhaupt nicht heraus: „Kultur“ und „Zivilisation“ zum Beispiel. Von der einst einlullenden Bundestagsrede 2001 bis 31 anderen Reden haben wir, das Publikum das „Gift seiner Reden“, „gelegentlich absichtlich überhört“, so der Komponist im Interview.
Die durchweg faszinierende Aufführung (szenische Einrichtung von Georges Delnon) steuert der Überhöhung erfolgreich entgegen. Manchmal tut einem der einsame Putin, der in der Partitur nicht „Putin“, sondern „Bariton“ heißt, regelrecht leid, so klar machen Kampe und Nigl, dass seine Machtfantasien jedem Minimum an Rationalität und Humanität entbehren, ja krank sind. Ohne einen Ausnahmesänger wie Nigl ist dieses Werk gar nicht zu realisieren.
Kampe hat meist ein distanziertes, komisches, parodistisches Verhältnis zum eigenen Tun und so nutzt er hier volksliedartige Phasen, Tänze, arienartige Stellen, „kitschige“ Intervalle wie Terz und Sexte – immer in einer Mischung aus Singen und Sprechen. Meist ist so eine Art Galgenhumor zu hören, was die Gruseligkeit der Texte um eine weitere Dimension bereichert. Diese Musik wechselt permanent, zeigt keinen durchgehenden Stil: sie ist flexibel, biegsam, messerscharf und grell auf den Punkt genau und in dem Kammerensemble für zwei Celli, Kontrabass, Klarinette, Posaune, Schlagzeug, Harfe und zwei unterschiedlich schief gestimmte Klaviere souverän aufgehoben bei den MusikerInnen des Staatsorchesters unter der Leitung von Tim Anderson. Mag sein, dass diese Aufführung manche schon vorhandenen Meinungen repräsentiert, aber sie regt an, noch genauer hinzuhören, wenn die populistischen Demagogen reden.
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