Wenn im Herbst das aus den Tagen der zeitgenössischen Musik hervorgegangene Festival TonLagen ins Festspielhaus Hellerau einlädt, schmückt stets ein besonderes Accessoire das inzwischen gut 100-jährige Ambiente. In diesem Jahr waren es Pilze. Hölzerne Pilze. Eine Anspielung auf das Interesse von John Cage, der ja jetzt ebenfalls 100 Jahre alt wäre, an Pilzen und Myzelen. Es sollte in die Tat umgesetzt werden: Pilzesammeln für Neue Musik.
Es lag auf der Hand, dass John Cage in diesem Jahr überall dort geehrt wurde, wo es um die sogenannt Neue Musik geht. Cage wird zwar sehr oft schon als Altmeister apostrophiert, doch in dem, was neu ist in der heutigen Musik, scheint er mit seinem Schaffen nach wie vor zu Hause zu sein. Das gilt bekanntlich auch für die Stille. Das vom Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau veranstaltete Festival TonLagen feierte diesen Altmeister dankenswerterweise auch noch nach dem eigentlichen Jubiläum des 100. Geburtstages mit einem „John Cage Spezial“. Allzuoft werden gefeierte Künstler ansonsten ja just nach dem Anlass ihrer Würdigung erst einmal abgehakt.
Nicht so in Hellerau. Intendant Dieter Jaenicke und sein Team haben bewusst auf belebtes Bewahren gesetzt und das Programm ihrer TonLagen in aller Vielfalt mit Cage angefüllt. Besonders überzeugend gelang dies am ersten Oktober-Wochenende, das in einem 48-Stunden-Marathon dem umfangreichen Interessengebiet des vor 20 Jahren verstorbenen Amerikaners gewidmet worden ist. „Für die Vögel“ war das Festival im Festival überschrieben – eine Anspielung auf eine Anspielung, die Cage einmal in Bezug auf seinen Namen geäußert hatte: „Ich bin für die Vögel, nicht für die Käfige.“ Nicht nur die Klänge flogen frei, auch die Gedanken und Gefühle durften sich weiträumig entfalten. Wer da wollte, konnte im Festspielhaus sogar übernachten. Derlei Ereignischarakter hatten die Veranstalter schon früher erfolgreich gewagt. Natürlich war neben „Cage komplett“ auch der Besuch ausgewählter Einzelveranstaltungen möglich. So setzte sich das klingende – und von fast ebenso viel Stille erfüllte – Mosaik dieses Spezials aus verschiedenen Varianten von „4‘33“ zusammen, bot Cages erstes Orchesterstück „The Seasons“ aus dem Jahr 1947 und verband dafür einmal mehr das Europäische Zentrum mit der Dresdner Philharmonie. Unter der Leitung von Kasper de Roo gab es zudem mit „Seventy-Four“ eines der sogenannten Nummernstücke als recht ergreifende Darbietung, der „Atlas Eclipticalis“ schon aufgrund der Zufälligkeiten in diesem spröden Klangkosmos (das Wort bekommt hier durch die gedachte Verbindung von Sternen und Einzeltönen ganz neuen Sinn) nicht ganz standhalten konnte. Speziell wurde dieses Konzert durch die von Manos Tsangaris erdachten szenischen Elemente, zu der alle vier Stücke nochmal wiederholt wurden. Spielerische Lichtideen, auftretende Schlittenhunde (!) und pilgernde Figuren belebten den Bühnenraum zwar, fügten aber kaum Erhellendes zum Verständnis der Musik bei. Der Ansatz jedoch, die Musik mal nur mit den Ohren und dann quasi auch mit den Augen zu hören, dürfte durchaus in Cages Sinn gewesen sein. Er hätte sich vor allem über den starken Publikumszuspruch gefreut, der sich in späteren Wandelkonzerten spürbar vereinzelte.
Da gab es von der Pianistin Pi-Hsien Chen die „Music of Changes“, in pittoresker Ausdruckskunst den „Vortrag über Nichts“, zur Nacht als Kontrastprogramm die „Goldberg-Variationen“ von Johann Sebastian Bach und in parallel laufenden Programmen tagsüber einen Querschnitt aus den „Songbooks“ sowie an Instrumentalstücken und Filmen. Dass kaum wer die Chance hatte, sich einen kompletten Überblick zu verschaffen, mag ein Manko gewesen sein. Ein durchaus hinnehmbares. Denn so ein Mammutprogramm kann die Gefahr des Übersättigens beinhalten – was hier aber schon durch die Qualität der vortragenden Künstlerinnen und Künstler wohltuend vermieden wurde.
Herausragend ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit waren etwa die „Variationen III“ vom elole-Klaviertrio, „Thirty Pieces for string quartet“ und „Four“ vom Sonar Quartett sowie „Five“ vom Ensemble ConTempo Beijing. Das bizarre Instrumentarium der Asiaten im Aufeinandertreffen mit der Musik von John Cage eröffnete wiederum für Auge und Ohr spannungsvolles Erleben.
Anders spannend – und mit offenem Ausgang – sollte sich ein morgendlicher Spaziergang mit dem Cellisten Jan Vogler gestalten. Hier war eine Pilzsuche angesagt, um sowohl Cages Leidenschaft für die kleinen Hütchenträger als auch das Prinzip Zufall im Programm zu integrieren – unter kundiger Begleitung eines Pilzexperten, versteht sich. Denn die Fundstücke wurden zu Mittag gemeinsam verspeist. Während ihrer Zubereitung servierte Vogler das Solo „One8“ und traf damit exakt den Anspruch, Leben und Kunst untrennbar miteinander verschmelzen zu lassen. Dass Cage übrigens beinahe die 1987 gegründeten Tage der zeitgenössischen Musik besucht hätte – er war in seinem Sterbejahr 1992 eingeladen und hatte durchaus vor, nach Dresden zu reisen –, gibt dem Ganzen noch eine persönliche Note.
Aber nicht nur in seinem Zeichen standen die TonLagen 2012: Deren Eröffnung wurde mit „Fernorchester“ als einer Uraufführung von Hannes Seidl und Daniel Kötter bestritten, was leider wenig substantiell und frei von künstlerischem Nachhall blieb. Knapp zwanzig Fernsehgeräte auf der Bühne ohne jedes Gefühl von Ferne, von Weite, schon gar von Orchester – sie boten einen enttäuschenden Auftakt. Ein Eindruck, der rasch wieder ausgeglichen werden konnte, im Komponistenporträt von Jani Christou zum Beispiel. Der 1970 mit nur 44 Jahren bei einem Unfall gestorbene freie Radikale ist vom Dresdner Ensemble Courage mit beachtlichem Engagement gewürdigt worden. Auch ConTempo Beijing agierte nochmals auf hohem Niveau und verband fernöstlichen Klang mit den experimentellen Formen einer längst globalisierten Kultur. Beeindruckend gelang ebenso die Performance des Kontrabassklarinettisten Theo Nabicht mit vier weiteren Kollegen dieses raren Instruments, das Publikum in wechselnden Arrangements zu umstellen und ihm faszinierende Höreindrücke zu verschaffen.
Auch hierbei wieder viel Stille. Wirkungsvolle Stille, wie sie John Cage gefallen hätte. Wie sie ein Wagnis ist in jeder Musik, bei jedem Festival.