V.l.n.r.: Ilya Silchuk (Albert), Adèle Clermont (Sophie), Sangmin Jeon (Werther), Ekaterina Aleksandrova (Charlotte). Foto: © Candy Welz
„Werther“ in Weimar: Sensibilitätsoffensive und Idealbesetzung
Nach der Wiener Uraufführung 1892 in der deutschen Übersetzung von Max Kalbeck kam „Werther“ bereits im November des gleichen Jahres im durch Franz Liszt für französische Oper besonders affinen Weimar heraus. Erst im frühen 20. Jahrhundert verschwand die französische Goethe-Adaption infolge der deutsch-französischen Feindschaft bis in die 1970er-Jahre von deutschen Spielplänen, um mit „Cendrillon“ die bis dahin weitaus beliebtere „Manon“ zu verdrängen. In der Oper ist die Figur der Charlotte weitaus spannungsvoller als die Projektionsfigur von Werthers exaltierten Stimmungsbögen in Goethes Roman.
Die Staatskapelle Weimar saß im Orchesterprobesaal und wurde dank der kongenialen Toneinrichtung von Harms Achtergarde und Thomas Fischer brillant in den Zuschauerraum übertragen. Man hörte die vollen Oberton-Frequenzen der Instrumente in fast zu guter Balance. Die musikalische Leitung kommuniziert mittels eines analogen Monitorsystems mit der Bühne, weil diese im Gegensatz zu den minimal zeitversetzten neuen Technologien 1:1-Reaktionen ermöglicht.
Marco Alibrando ist ein Massenet-Genie
Der neue erste Kapellmeister Marco Alibrando ist ein Massenet-Genie. Die vier Solisten in der um alle Nebenfiguren inklusive Kindergruppe und damit etwa 20 Minuten gekürzten Weimarer Einrichtung entwickeln Spannung durch den langen beruhigten, aber keineswegs ruhigen Fluss, eine enorme vokale und szenische Kraft. Das Ganze wird zu einem „musikalischen Roman“, wie Massenets Zeitgenosse Gustave Charpentier seine Oper „Louise“ definierte. Massenets faszinierende Partitur entfaltet ein tausendstimmiges Instrumentalleben - bis zum stummen Selbstmordschuss des manisch-depressiven Poeten Werther im großen Weihnachtsnacht-Orchestertableau und darüber hinaus.
Das Produktionsteam besinnt sich in dem Musterstück einer lyrischen Oper auf Basisvoraussetzungen des Musiktheaters. Die Unterschiede von Goethes im späten 18. Jahrhundert sensationellen Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ zum von Massenet kritisch reflektierten Livret Édouard Blaus, Paul Milliets und Georges Hartmanns werden evident. In den beiden Herren der Statisterie mag man gern die gestrichenen Spießer Schmidt und Johann, hier allerdings ohne Alkohol, erkennen. Die Kinder und alle klemmen hinter dem Lattenpodest, was die Seelenbühne-Fläche auch für die Leiden Charlottes an ihrer zunehmend toxischen Ehe mit dem zwanghaften Albert bildet. Philip Rubner setzt zwei Wände um den frühbürgerlich goethezeitlichen Hausstand. Dahinter zeigen ein sommerlicher Buchenwald (!) und eine trostlos graue Winterlandschaft, schließlich ein schwarzes Loch die psychischen Zerfaserungen hinter den realistischen, mit extremer Sauberkeit überhöhten Kostümen von Mara Lena Schönborn. Dorian Dreher, der mit Valentin Schwarz und Timon Jansen die neue Teamintendanz am DNT bildet, setzt auf ein mit psychologischer Akribie erarbeitetes, gesteigertes und mit kleinen Bewegungen endendes Kammerspiel, welches das Soloquartett kongenial verwirklicht. Die Handlung entwickelt sich mit extrovertierter Expression nur an den dann freilich desto packenderen Kulminations- und Krisenpunkten, durchaus nachvollziehbar und derzeit mit einer im Operngeschehen derzeit eher seltenen glaubhaften Authentizität. Ilya Silchuks Bariton klingt für den knabenhaft glatten Albert auch in den beiden großen Ariosi so weiß, dass die Blässlichkeit des Biedermanns für alle Projektionsflächen offen ist.
Charlottes jüngere Schwester Sophie könnte ziemlich flach und langweilig werden. Sympathie für den übersensiblen Werther und schwesterliche Zuneigung verbindet Adèle Clermont aus dem Thüringer Opernsdtudio zu einem intensiven, von Sentimentalität freien Porträt. Sangmin Jeon profitiert kongenial von Alibrandos hoch energetischer Haltung. Durch die plausibel auseinandergenommene Figur der Charlotte, deren Liebe für Werther hier sofort erkennbar ist, gewinnt auch die Gestaltung der Titelfigur.
Ekaterina Alexandrova ist eine durch tiefgründigen Seelenrumor faszinierende Charlotte und Vulkan unter dichtem Samt! Im Melos stecken Fragen, immer wieder auch subtile Verzückung. So und nicht anders muss es in dieser Oper sein. Wenn alle Fallstricke überwunden sind, steht einer Sternstunde nichts entgegen. So am mit langer Begeisterung des Publikums belohnten Premierenabend.
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