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Leonor Campillo, Marcos Vinicius dos Anjos. Foto: Claudia Heysel.

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Wiedersehen in London – Elisa Gogou und die Anhaltische Philharmonie veredeln in Dessau Tschaikowskis „Nussknacker“

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Bei Tschaikowski trauen sich viele Theater keine Tanzproduktionen mit Musik aus der Konserve. Zum Glück. So gelingt „Der Nussknacker“ zwar mit der jugendfreundlichen Aktualisierungssorgfalt von Ballettdirektor Stefano Giannetti in Dessau erfreulich gut, wird aber erst durch die beglückend Tschaikowski-affin spielende Anhaltische Philharmonie unter Elisa Gogou zum Fest. Leonor Campillo als träumerische Klara und Marcos Vinicius dos Anjos als Nussknacker-Traummann stehen an der Spitze der aktionsfreudigen Kompanie nebst großem Kinderchor.

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Es gibt tatsächlich weiße Weihnachten und am Ende kommt das junge Hauptpaar in einem klassischen Ballett-Duo zusammen. Der von Ballettdirektor und Choreograph Stefano Giannetti für das Anhaltische Theater Dessau beibehaltene Untertitel „Märchenballett“ ist also keine Mogelpackung. Giannetti und das Dessauer Ballett vergegenwärtigen stilistisch vielfältig und fast unauffällig Tschaikowskis letztes großes Ballett. Während einige Theater in letzter Zeit den „Nussknacker“ nach den Novellen von E. T. A. Hoffmann und Alexandre Dumas mit Tschaikowskis letzter Oper wie bei der Uraufführung im Dezember 1892 am gleichen Abend spielen, folgt in Dessau „Der Nussknacker“ zwei Jahre nach der prachtvoll gelungenen Premiere von „Iolanta“. Beide Aufführungsgepflogenheiten sind berechtigt, denn in jedem der beiden Werke steckt trotz einer Spieldauer unter 90 Minuten Ohrwurmpotenzial für einen Abend von mindestens drei Stunden. Nur kommen in „Iolanta“ Tschaikowskis innere Probleme – die Trauer über den Tod der Schwester, die Angst vor dem Alter und die Melancholie der Einsamkeit – weit mehr heraus als im „Nussknacker“, in dem er diese Gefühle bis zu Unauffindbarkeit versteckte. Giannetti und sein Dramaturg Yuri Collosale haben die originale Handlung mit Heiligabend-Bescherung, nächtlichem Spielzeugkrieg, Reise ins Märchenland und Verherrlichung der schönen Illusionen erst genau überprüft und dann dezent Richtung Gegenwart gekickt. So mischen sich immer wieder lockere Schrittfloskeln in die gar nicht strengen, dafür sehr realitätsnahen Gruppenarrangements für die Ballettkompanie. Der kleine Glaslüster zitiert die Entstehungszeit der Belle Époque, die schlichten Wände und das kleine Flugzeug das 20. Jahrhundert. Mit dem glatten silbernen Weihnachtsbaum setzt Bühnenbildner Moritz Nitsche eine Andeutung für die protzigen Ambientes gegenwärtiger Konsum-Umschlagplätze. Sinnfällig wie treffsicher für die Figuren und Persönlichkeiten geraten die charakterisierenden Kostüme von Judith Fischer.

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Frau und Herr Silberhaus haben überdeutlich eine Ehekrise. Sie shoppt (Carlotta Rocchi), er hat die Augen immer im Internet (Martin Anderson). Gegenseitige Rücksichtnahme ist also eher Zufall. Darauf reagiert Sohn Fritz (Marc Balló y Cateura) mit Überaktionismus und Tochter Klara (Leonor Campillo) mit träumerischen Blicken in die Welt. Klaras Traummann Drosselmeyer (Marcos Vinicius dos Anjos) kommt von draußen und schenkt ihr den titelgebenden Nussknacker. Natürlich wird die ganze Familie zur Soldateska der beiden Kriegsparteien in Klaras Traum – mit Ausnahme der rothaarigen Bestager-Großmutter (Kerstin Dathe). Die in letzter Zeit etwas ins Kreuzfeuer der Rassismus-Kritik geratenen Folklore-Nummern des zweiten „Nussknacker“-Aktes gewichtet Giannetti mit Ernsthaftigkeit und trotzdem komödiantischem Geschick. Die Eltern wollen die seit der Begegnung mit ‚ihrem‘ Drosselmeyer noch verträumtere Klara mit einer abgefahrenen Weltreise auf andere Gedanken bringen. Das geschieht jedoch anders, als sie denken. In einem London ohne Nebel, das auch ein Amsterdam mit Narzissen und Tulpen sein könnte, begegnen sich Klara und Drosselmeyer zufällig wieder. Er entführt sie mit einem souveränen Pas de deux in ein neues Leben und eröffnet Klara die Chance, einiges anders zu machen als ihre Eltern. Diese lassen Klara endlich los und kommen wieder vertraulich zusammen. Eine Zuckerfee muss also nicht eingreifen, Tschaikowskis Lieblingsinstrument Celesta spielt trotzdem. Der in der Schneeflocken-Szene mit großer Besetzung und bunter Montur singende Kinderchor wirkt in der Einstudierung von Dorsilava Kuntscheva definitiv kitschfrei. Das Wichtigste tritt ein: Der ins Jetzt flunkernde Gedankenüberbau mit einem kleinen Seitenhieb gegen Konsumterror belastet weder die tänzerische Leichtigkeit der besten Eindruck machenden Kompanie noch trübt er die Märchenhaftigkeit durch überflüssigen Ernst.

Extraklasse dazu die Anhaltische Philharmonie. Elisa Gogou akzentuiert Tschaikowskis berückende Bläserparts mit Glanz und mehr Keckheit als Melancholie. Die Streicher dürfen an den richtigen Stellen üppig schwelgen und auch jene Stellen werden erkennbar, an denen Tschaikowski sich auf starke Momente aus früheren Spitzenwerken wie aus „Eugen Onegin“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“ besinnt und diese weiterdenkt. Das Premierenpublikum war begeistert, nur wenig fehlte zu einer lückenlosen Standing Ovation.

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