In der Wirtshausszene von Büchner-Bergs „Woyzeck“/„Wozzeck“ sinniert der betrunkene Erste Handwerksbursche: „Jedoch wenn ein Wanderer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit…“ – und drückt in diesem prächtig paradoxen Bild ein Zentralproblem der Musik aus. Denn diese ist Zeit-Kunst par excellence, entspricht in ihrer ungreifbar ungegenständlichen Immaterialität Heraklits Grundfomel „Alles fließt“; während zum (sich) Anlehnen ein stabiles, dreidimensionales Widerlager – eine Wand, ein Geländer, ein Körper – gehört. Das tönende ätherische Fluidum, gar das Säuseln der „Äolsharfe“, ist, zumindest im Sinne eurozentrischer Kunstmusik, an historisch vermittelte Formen gebunden. Doch schon das abschätzige Wort „formlos“ führt als Negativ-Bestimmung ins Dilemma: Was heißt „Form“, was gar „formvollendet“?
Letztlich erweisen sich nicht wenige Definitionsversuche als unbeholfene Übernahmen etwa architektonischer Kategorien: Aufbau, horizontale Draufsicht, vertikale Stufung, symmetrische Anlage. Noch manche Mozartschen Sonatenhauptsätze oder A-B-A-Modelle lassen sich so analog zu Repräsentativbauten des 18. Jahrhunderts erklären – vorausgesetzt, man versteht unter „Form“ eine primär statisch-quantitative Anordnung festgefügter Abschnitte. Aber selbst Sonate, Variation oder Fuge sind eher Prinzipien oder Satztechniken als klar vorgegebene Abläufe – zu denen bedeutende Kunstwerke ohnehin quer stehen.
Wenn nun die Donaueschinger Musiktage 2013 sich gar auf die Suche nach der „Großform“ machten, dann war dem Vorhaben ein Moment von Donquichoterie einbeschrieben – als wolle man den Kampf mit musikhistorischen Windmühlenflügel-Riesen aufnehmen: Beethoven, Wagner Brahms, Bruckner, Mahler, Strauss – mithin mit einer Ästhetik der Einheit von Anspruch, ja „Botschaft“, weiträumiger Dauer, opulenter Besetzung und nicht zuletzt kunstreligiösem (Massen-)Ritual, ob in Oper oder Konzertsaal. Mahlers „Sinfonie der Tausend“ wurde zum Schlagwort tönender Elefantiasis. Gigantismus der Mittel und Allerhöchstes verkündende erhabene Texte vereinten sich zur schlechthinnigen Überwältigungs-Strategie. Entsprechend misstrauten die wichtigen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts schon dem Terminus „Sinfonie“. Debussy, die Schönberg-Schule, Strawinski, Bartók verweigerten den Titel oder funktionierten ihn radikal um.
So war es kein Wunder, dass die Donaueschinger Programmatik ambivalente Gefühle auslöste. Als gäbe es ein Zurück in spätromantisch-gründerzeitliche Mega-Monumentalität – und: als habe das kompositorische Auftrumpfen nicht auch unterschwellig etwas vom Wettrüsten gehabt, vom freudigen Vertrauen ins selbstzweckhaft Überdimensionale der orchestral-chorischen Aufgebote. Das Wagner-Jahr 2013 und die Überlegungen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 verweisen zumindest auf ideologische Analogien. Das Projekt kritisch zu konterkarieren und generell auf ein anachronistisches Größenwahn-Syndrom zurückzuführen, ist also nicht allzu schwer. Aber so einfach ist es nicht. Denn die Entwicklung überaus expansiver Formverläufe hatte ihre Gründe, nicht nur in der keineswegs nur negativ zu wertenden Unendlichkeits-Utopie, sondern auch im Verlust der harmonisch-tonalen Stringenz. Bestimmte das Tonartengefälle noch in den Allegro-Kopfsätzen bei Haydn, Mozart und Beethoven das rapide Fortschreiten, Raumgreifen, so haben die gelockerten Beziehungen den Fluss gebremst: Die Kopfsätze bei Schubert, Brahms, Bruckner selbst Mahler werden langsamer, tendieren zu epischer Breite. Der Wagner von „Ring“ und „Parsifal“ kennt, abgesehen von virtuosen Genre-Bildern, kaum noch schnelle Tempi. Mit zunehmender Ausdehnung verliert die Musik an kinetischer Energie: Dauer und Klangraum dominieren die „Form“. Hinzu kamen via Asien „Unbestimmtheits“-Phänomene, die eurozentrischem Denken in linearen Prozessen zuwiderlaufen. Cages „4.33“ ist für schlechterdings jede Besetzung wie Dauer denkbar. Sein Halberstädter Orgel-„work in progress“ „ASLSP“ ist für 639 Jahre konzipiert. Eine von La Monte Youngs „Compositions 1960“ besteht auf der Quinte h-fis „ to be held for a long time“; die von ihr ausgehenden Parallelen weisen in die Unendlichkeit. Traditionell rationale Kriterien wie Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel, Form und Struktur, Detail, Totale und Fragment, Statik und Dynamik wollen nicht mehr greifen, zeugen stattdessen eher von unbeholfenem Glauben an althergebrachte Modelle. „Form“ bestünde am ehesten im Widerspiel von Augenblick und Ewigkeit, Subjekt und Objekt. Doch das zeitlos Gestaltlose im hic et nunc fester, kompakter zu umschließen, bleibt eine Utopie, die mit dem Gegensatz von Chaos und Ordnung, Anarchie oder Akademismus nicht einfach aus der Welt zu schaffen ist.
Insofern ist das Motto des expressionistischen Lyrikers Ernst Stadler, 1914 gefallen: „Form und Riegel mussten erst zerspringen, Welt durch aufgeschloss’ne Röhren dringen: Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen. Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen…“ durchaus dialektisch zu verstehen. Dem Donaueschinger Programm vorangestellt, „Form ist Wollust“, hat es immerhin erhebliche Provokationskraft, Projektionskraft, deren animierende Produktivität allerdings notwendigerweise größer wirkt als die daraus resultierenden Ergebnisse.
Solche Generalthemen, wie im Vorjahr Musik und Technik, sind ja keine Leitlinien, gar Garanten fürs Gelingen, sondern Animationen, kompositorisch der Frage nachzugehen, ob es nicht doch dialektische Umschlagspunkte gibt etwa zwischen Kurtags Kürze und Feldmans Länge. Oder, um es aktuell griffiger zu formulieren: Hält der Computer nicht gleichermaßen Möglichkeiten digitaler Minimalisierung und unermesslicher Prozessualität bereit, die die Frage nach dem Verhältnis von Ganzem und Teilen obsolet wirken lassen.
Ist man bereit, sich auf derlei offene Felder zu begeben, so ist das Ergebnis des diesjährigen Festivals gerade in seiner Heterogenität alles andere als dürftig, vielmehr ein facettenreiches Bild heutigen Komponierens. Denn an eine, womöglich dogmatische, Erfüllung eines ohnehin kaum schematismusträchtigen Auftrags hat sich kaum einer gehalten. Prekär allenfalls wirkte die mitunter ausladende Schilderung kompositionstechnizistischer Prozeduren und semantischer Programme im wie stets hochinformativen Programmbuch. Walter Zimmermann beispielsweise geht in seinem sechsteiligen „Clinamen“ (Abweichung) Gedanken Epikurs nach, für die er außerordentlich intrikat elaborierte musikalische Vorgänge entwickelt hat, nicht zuletzt auch verbal. Mathematisches, Mystisches, Außereuropäisches werden da ineinander überführt, ein permanenter Brückenschlag beschworen. Beim klingenden Gesamteindruck freilich spürt man wieder, wie nahe Zimmermann Cage und Feldman immer noch ist – weniger in der Materialbehandlung, mehr im entspannten Geiste, dem fast heiteren Spiel mit bedeutungsentlasteten Bewegungs- und Klangmustern, so einfach konzipiert sie auch sein mögen. In die pompös aufgesperrte Großform-Falle jedenfalls ist er nicht gegangen. Insofern war das erste Orchesterwerk der Musiktage durchaus geeignet, allzu stirnrunzelnde Sinnhuberei in sanftem Gleichlauf zu unterminieren.
Seiner Selbstbeschreibung nach ist Bernhard Lang keineswegs weniger ambitioniert, wohl aber greift er weiter aus, wobei die Beschäftigung mit der Computertechnologie wie mit der Jazz-Improvisation ein spannungsreiches Amalgam ergeben. Denn aus beiden Sphären, scheinbar konträr, hat er das Widerspiel von Differenz und Wiederholung gewonnen, das stets neu fragmentierte Immergleiche. Doch geht es ihm nicht nur ums dekonstruktive, die elektronische Teilchenbeschleunigung: Er geht auch gezielt das Idol-Monument sinfonischer Großform an: Anton Bruckner, dessen Erste, in der frühen Linzer Fassung, er zitiert, zersplittert und „übermalt“. Wobei er gerade die Klischees von „Kathedralen-Architektur“ und „Weihe“ attackiert, im Gegenteil das Gezackte, monoman Obsessive Bruckners, bis hin zu schier epileptischen Zuckungen, durchklingen lässt. Dritte Komponente seiner „Monadologie XIII“ ist die Viertelton-Differenz der beiden entfernt entgegengesetzten Orchester; so dass man stets das Gefühl hatte, den Klang des einen im anderen, notgedrungen leicht verzerrt, gespiegelt zu hören. Frei von Monstrosität ist das nicht, doch gleichgültig ließ die Mixtur aus Kalkül und Kaleidoskop nicht.
Ist eine Großform aus lauter Einzelteilen deren majestätische Summa oder bloße Addition von Bagatellen? Signifikant jedenfalls war, dass gerade die ausgesprochen „langen“ Werke sich als Zyklen älterer Stücke erwiesen. Auch Enno Poppes fast achtzigminütiger „Speicher“ besteht aus sechs „Speichern“ (2008–13), entspricht aber nicht einem Zyklus oder auch nur einer Serie. Einer „Renaissance der Großform“ gegenüber ist er mit gutem Grund skeptisch, ebenso aber dem bloßen Zusammenbauen von Fragmenten. In seinem Langwerk zielt er auf nichts Geringeres als den Spagat zwischen Gesamtschau und Augenblick. Und er ist ihm gelungen, sowohl in der Fülle des Ganzen wie in der Erfülltheit des Moments. Dabei hat er keine Scheu, motivische, ja thematische Gestalten zu (er)finden, die sich einprägen, ohne mit neotonalen Klischees zu kokettieren. So hört man prägnante Figuren, etwa Vogelrufe, Signal-Repetitionen, schüchtern-expressive Melodien, Klang- und Bewegungs-Kombinationen, die subtil abgewandelt und miteinander verknüpft werden, auseinander hervorgehen. Mit dieser, an Webern geschulter, Technik gelingt es ihm, weite Räume zu bauen, den Schluss-„Speicher“ sogar ins quasi Hymnische zu öffnen, ins transzendierende Trompeten-Fanal zu steigern, dieses mit einem pp-Streicher-Tremolo schließlich wieder zu verwischen. All das ist unerhört souverän komponiert und von ihm auch dirigiert. Wollte man einen Einwand formulieren, er läge womöglich in diesem Doppel-Metier, der eminenten Sicherheit im Umgang mit seinen Materialien, Techniken wie Absichten. Sperrigkeit sich selbst gegenüber, das Unterlaufen der eigenen Verfügungs- wie Verführungskraft lässt sich freilich nicht verlangen. Vielleicht kommt sie ganz von selbst.
So vorsichtig man mit nationalen Zuordnungen sein sollte: Zwei griechische Komponisten haben in Paris, unabhängig von rivalisierenden Schulen und Gruppen – was gar nicht so leicht ist – ihren ganz individuellen Weg gefunden: Iannis Xenakis und Georges Aperghis. Wobei dieser weniger der Technik, weit mehr dem Theatralischen verhaftet ist. Nicht wenige seiner Werke haben ihr latent Szenisches. So auch die sprichwörtlichen „Situations“ für 23 Instrumentalsolisten, die nicht zufällig an Filme Jacques Tatis denken lassen: skurril diskontinuierliche Momentaufnahmen voll quasi stummer Komik, hochinspirierter Soundtrack einer Slapstick-Groteske, der gleichwohl nie ins banale „mickeymousing“ karikierender Imitation und Deskription verfällt. „Situations“ bleiben „absolute“ Musik fürs imaginäre Theater, mögen auch Gummibaum und Stehlampe „Wohnzimmer“ assoziieren lassen – während brabbelnde Satzfetzen für Dada-Abstrusität stehen.
Um Sprachkorrelate geht es auch Hèctor Parra in seiner Hommage an den russischen Futuristen Velimir Chlebnikov, autonomen elektroakustischen Szenen, gewonnen aus quasi mikrokospierten Natur- und Technik-Partikeln, im Duktus eher konventionell, dafür erfreulich frei von Überbau-Bombast. Da zielt Raphaël Cendo mit seinem „Registre des lumières“ schon weit höher: auf eine Zeitreise vom Beginn des Universums bis heute – mit düster dräuenden „Malstrom“-Klangwanderungen, großen Gesten und dem Ovid und Heraklit singenden SWR-Vokalensemble, nivelliert im obligaten Ircam-Sound.
Hoher Anspruch, auch auf die ominöse Großform, und üppige Besetzung im Abschlusskonzert; wobei sich einmal mehr die Text-Vertonung als heikel erwies. Bruno Mantovanis Kantate auf wenig bekannte, unerwartet abgründige Gedichte Schillers kam über unscharf konventionelles Chor-Gebaren kaum hinaus, und die Schlagzeug-Akzente blieben plump uniform. Alberto Posadas’ „Kerguelen“ setzt ein Holzbläser-Trio im Sinne des gleichnamigen Südsee-Archipels gegen das Orchester. Das mehrschichtige Kräftespiel bleibt allerdings zu kompakt, um nachhaltiger zu wirken. Da weiß Philippe Manoury mit „in situ“ für das SWR-Orches-ter und das Ensemble Modern anders zuzulangen, den Raum aufzufächern und Antagonismen dramatisch zu inszenieren: ein gewaltiges „Tableau vivant“, das durchaus Eindruck machte und keineswegs zufällig den Preis des Orchesters erhielt.
Was fehlte diesmal? Zunächst einmal Komponistinnen. Der Vorstellung von Neuer Musik letztlich immer noch als Männer-Domäne wurde jedenfalls nicht entgegengewirkt. Ein weiteres Manko tauchte auf einem anderen Feld auf: Nimmt man den Begriff „Großform“ ernst, dann müsste man die Weiterungen hin zum „Gesamtkunstwerk“ zumindest reflektieren. Eine Gelegenheit hierzu hätte immerhin der zweite Teil des Jazz-Abends geboten, bei dem zum Tobias Delius Sextett auch die Performerin Ciska Jansen in der Rolle einer indonesischen Köchin gehörte, die auf der Bühne mit Töpfen und Pfannen hantierte, und so eine szenische Komponente ins Konzert brachte. Doch, ach, zu hören war von ihren Aktivitäten nichts, dabei wären die Küchengeräusche so leicht zu mikrophonieren; und sie hätten eine pikante Zutat abgegeben. Von der Skrjabinschen Utopie gar der „Duftorgel“ ganz abgesehen.