In manchen Magazinen steht auf der Schlussseite eine Frage: Was macht eigentlich…? Es folgt der Name nebst Artikel eines Prominenten von gestern, der sich meist leise ins Privatleben zurückgezogen hat. Diese Frage könnte man auch für Klaus Lauer stellen. Viele Jahre, ja Jahrzehnte lud er in sein elegantes, altehrwürdiges Römerbadhotel in Badenweiler zu anspruchsvollen Musiktagen ein, meist zweimal im Jahr, manchmal sogar dreimal. Wer zählt die Ensembles und Künstlernamen, die gastlich in Badenweiler zusammenkamen...
Was macht eigentlich…? Nun, Klaus Lauer hat sich keinesfalls zur Ruhe gesetzt. Badenweiler liegt nun in Bad Reichenhall. Das Römerbadhotel heißt jetzt Hotel Axelmannstein, und das berühmte Oktogon im Römerbad verwandelte sich in ein „Altes Königliches Kurhaus“, dessen großer Saal der Musik ein würdiges Ambiente und eine hervorragende Akustik bietet. Unter der Leitung von Lauers Vorgängerin, Kari Kahl-Wolfsjäger, legten sich die spätsommerlichen Musiktage den Titel „AlpenKlassik“ zu, was eher ein wenig an Milchprodukte denken lässt als an seriöse Musikausübung. Das „Klassik“ wurde aber auch schon von Kari Kahl-Wolfsjäger „unterlaufen“, indem sie jährlich ein halbes Dutzend zeitgenössischer Komponisten nach Reichenhall zu einer „Liederwerkstatt“ einlud, in der diese jeweils Gedichte eines bestimmten Dichters vertonten, und zwar „live“ und „vor Ort“.
Klaus Lauers Konzept für Reichenhall stützt sich fürs Erste auf seinen reichen künstlerischen Römerbad-Fundus. Im vergangenen, seinem ersten Jahr, stellte Lauer den Komponisten und Klarinettisten Jörg Widmann als „Composer in residence“ in den Mittelpunkt eines farbigen und abwechslungsreichen Programms. Für vier Konzerte konzipierte Jörg Widmann selbst die Programme: Werke von Brahms, Weber, Zemlinsky, Ravel und Richard Strauss, von Bartók, Messiaen, Kurtág, und natürlich ein halbes Dutzend eigener Kompositionen, darunter die Uraufführung der „13 Duos für Violine und Violoncello“, mit Carolin Widmann und Jean-Guihen Queyras. In Werkauswahl und interpretatorischer Qualität präsentierte sich die „AlpenKlassik“ im Jahre eins mit Klaus Lauer auf bestem „Römerbad“-Niveau. Was die Reichenhaller Musikfreunde nicht als freundliche Herablassung begreifen mögen. Die Atmosphäre, die gepflegte Ambience Bad Reichenhalls, die ruhige Gelassenheit, mit der man hier Kunst erfahren kann, das alles ist nicht weit vom Badenweiler Flair entfernt. Klaus Lauers zweites „Reichenhall modern“, vierzehn Konzerte in zwölf Tagen, war wieder in zwei Partien unterteilt. Die erste trug den Titel „French Connection“ (so hieß einmal ein amerikanischer Kriminalfilm) und präsentierte in fünf Programmen vornehmlich französische Musik: Debussy, Henri Duparc, Ravel, Boulez, Fauré, Chausson – zwei Ausnahmen waren Wolfgang Rihm und Béla Bartók. Am interessantesten aber zeigte sich die Entscheidung für den französischen Komponisten Bruno Mantovani als „Composer in residence“, worüber noch zu berichten ist.
Die zweite Partie nannte sich „Bach umkreisend“, wobei sich die Umkreisungen bis zu Liszt, Busoni und Kurtág erstreckten. Als Verbindungen gab es Werke von Mendelssohn Bartholdy, der immerhin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Aufführung der Matthäus-Passion überhaupt erst wieder die Person Bach ins musikalische Bewusstsein der damaligen Zeit gehoben hatte. Die Hereinnahme von Messiaen ins Bach-Thema stellte zugleich die Querverbindung zum „French Connection“-Komplex her. Klaus Lauers Programm-Dramaturgie zeichnet sich unverändert durch kluge Verknüpfungen und weite Perspektiven aus.
Das intelligenteste Programm macht jedoch nur dann den gewünschten Sinn, wenn die ausgewählten Stücke auch auf entsprechend hohem Niveau interpretiert werden. Lauer hat in den Badenweiler Zeiten eine große Zahl qualifizierter Interpreten um sich versammelt, die seinen Konzerten Glanz verliehen. Von dieser „Connection“ profitiert jetzt auch Bad Reichenhalls „AlpenKlassik“. Da war der Pianist Jean-Efflam Bavouzet, der brillant, mit Klangfantasie und geschmeidiger Technik Stücke von Debussy (Préludes I und II), Boulez (Douze Notations) und Bruno Mantovani (Italienne pour piano) spielte und kombinierte. Er demonstrierte, wie stark Debussys Kunst von „dessin“ (Zeichnung) und „couleur“ (Farbe) auf die nachfolgenden französischen Komponisten fortwirkten. Boulez, der gerade beim Frankfurter „Auftakt“-Festival an einem Symposium teilnahm, betonte dort wieder einmal diese Debussy-Affinität seines Komponierens.
Dass in Bad Reichenhall endlich einmal das Schaffen Bruno Mantovanis ausführlicher präsentiert wurde, verdient höchste Anerkennung. Mantovani ist einer der interessantesten Komponisten nicht nur Frankreichs, sondern der internationalen Neue-Musik-Szene. Seine vor zwei Jahren in Straßburg uraufgeführte Oper „L’autre côté“ gehört zu den wenigen wirklich nach vorn weisenden Musiktheaterprojekten der letzten Jahre. Bei der „AlpenKlassik“ erklangen von Mantovani „Blue girl with red wagon“ für Streichquartett und Klavier (hervorragend gespielt von Bavouzet und dem Quatuor Danel), ferner „Appel d’Air“ für Flöte und Klavier, „L’Ivresse“ für Steichquartett und als Uraufführung das „Quintette pour Bertolt Brecht“ für Harfe und Streichquartett (Sarah O’Brien/Quatuor Danel), das im Zusammenhang mit Mantovanis Theaterarbeit entstand. Äußerst konzentrierte Stücke, vielschichtig in der musikalischen Sprache, aggressiv in den rasenden Klangrepetitionen. Mantovanis Musik besitzt viel Kraft, die von Innen gespeist wird.
In „Bach umkreisend“ wagte sich der Pianist Markus Bellheim an Mes-
siaens „Vingt regards sur l’enfant Jesus“ – ohne ganz die Souveränität eines Pierre-Laurent Aimard zu erreichen. Dieser wird im nächsten Jahr die „Carte blanche“ für vier Konzertprogramme bei der „AlpenKlassik“ erhalten, worauf man sich jetzt schon freuen darf. Nicht alles kann hier mit der eigentlich gebotenen Ausführlichkeit erwähnt werden. Das Emerson String Quartet war neben Salzburg auch nach Reichenhall gekommen: Bachs „Kunst der Fuge“ (in einer Auswahl stand zwischen zwei Streichquartetten Mendelssohn Bartholdys (op. 12 und op. 80) – wunderbar, mit welch herrlicher Gelassenheit und gleichzeitiger großer Innenspannung die Emersons zu musizieren verstehen. Das Piano-Duo Andreas Grau/Götz Schumacher stand dieser gespannten Gelassenheit bei Kurtágs Transkriptionen von Bach-Chorälen, Busonis „Fantasia Contrappuntistica“ und Messiaens „Visions de l’Amen“ für zwei Klavier von 1943 nicht nach. Vor allem der Messiaen war ergreifend.
Dass nunmehr auch die tüchtige Bad Reichenhaller Philharmonie in Lauers Programm eingebunden ist, vermerkt man mit Genugtuung. Thomas J. Mandl hat das Orchester, das auch als Kurorchester fungiert, auf ein bemerkenswert hohes Spielniveau geführt, so dass man sich ohne Einschränkungen an Debussys „Prélude à après-midi d’un faune“, Ravels „Tombeau de Couperin“ und Liszts „Les Préludes“ wagen kann. Auch hier im ersten von zwei Konzerten gab es eine Uraufführung. Johannes Motschmann, ein Rihm-Schüler, komponierte ein Konzert für Klavier und Orchester, das durch einen energischen Impetus, griffige Klanggestalten und temperamentvolle Gestik überzeugte. Christian Seibert als Solist trieb alles markant heraus, das Orchester unter Mandl assistierte aufmerksam und vital im Wechselspiel mit dem Pianisten.