Nicht nur in Sachen Halévy („La Juive“) ist das Staatstheater Nürnberg der Münchner Staatsoper zuvorgekommen, auch mit Rameaus „Les Indes Galantes“ ist man nun in Franken früher dran als in der Landeshauptstadt. Juan Martin Koch hat die Premiere besucht.
Textilfreies Tanzen zur Musik eines Jean-Philippe Rameau: So stellt Regisseurin Laura Scozzi sich das Paradies vor. Die anmutig mit ihren Popos wackelnden Freikörper-Fans machen das mit einer solch ansteckenden Albernheit und Freude, dass man das durchaus nachvollziehen kann. Doch der kriegerische Greenkeeper und eine ganze Horde Unruhestifter vom Papst bis zum Diktator haben was dagegen – hier ist kein Platz mehr für die Göttinnen der Jugend und der Liebe. Vielleicht geht es ja in fernen Landen galanter zu?
Als „die Indien“ bezeichnete man im 18. Jahrhundert die außereuropäischen Kontinente und Rameau bediente mit seiner die Türkei, Peru, Persien und Nordamerika bereisenden Episodenoper die modische Sehnsucht nach der fernen Exotik. Laura Scozzi nutzt diese Konstellation in Nürnberg als Steilvorlage für etwas grobe, aber treffsichere Aktualisierungen: Der Pascha Osman (ein Urahn von Mozarts Bassa Selim) mutiert zum smarten Schlepper mit dem Herz am rechten Fleck, der Inka-Priester Huascar zum Anführer des „Leuchtenden Pfads“ mitten im Koka-Anbaugebiet. Der dritte Akt führt in eine muslimische Gesellschaft systematischer Frauenunterdrückung, der vierte zu Umweltaktivisten im Nationalpark Arizonas.
Entsprechend anders verlaufen die Episoden, die eigentlich Amors ungebrochene Wirkmächtigkeit außerhalb Europas schildern sollen: Emilie bleibt beim „großmütigen Türken“ Osman, der junge Liebhaber Carlos wird von Huascar erschossen, die geknechteten Frauen befreien sich aus dem Harem und im Schlussakt verweigert sich das junge Glück dem vorgezeichneten Weg in die eheliche Konsumhölle. Auf sie wartet der Garten Eden des Prologs.
Dabei kann und will Scozzi sich nicht für eine bestimmte Stilebene entscheiden. Die ernsten Themen, die sie anschneidet, werden von den Running Gags dreier mit der Fluglinie Eden Voyage reisender Touristinnen regelmäßig unterwandert. Szenisch verbleibt einzig der dritte Akt in einer düsteren Grundfarbe. Dafür tut sich hier ein beklemmender Abgrund auf zwischen Rameaus anmutig-sinnlicher Musik und der zynischen Frischfleischbeschau durch eine rücksichtslose Männergesellschaft.
Möglich werden diese Umdeutungen durch die vielen, ursprünglich dem Tanz vorbehaltenen Instrumentalnummern – entsprechend der Gattungsbezeichnung „Ballet-héroïque“. Gut, dass im Graben ein mit dem Repertoire bestens vertrauter Sänger und Dirigent steht: Paul Agnew hat an der Seite des Rameau-Großmeisters William Christie entsprechende Erfahrungen gesammelt und versteht es, diese an die spritzig aufspielende Staatsphilharmonie weiterzugeben, auch wenn dem modernen Instrumentarium einige Klangfarben fehlen. Der Chor ist mit Feuereifer, mitunter etwas forciert bei der Sache.
Michaela Maria Mayer (unter anderem als Hébé) und Martin Platz (als Liebhaber in vielen Gestalten) trotzten ihren gerade erst auskurierten Erkältungen mit Bravour, Hrachuhí Bassénz und Vikrant Subramanian bedienten die tieferen Stimmfächer kompetent. Glockenklar, mit stilsicherer Stimmführung erhob sich Amor in der Gestalt Csilla Csövaris über die Niederungen zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Probleme. Großer Jubel für einen über weite Strecken erfolgreich zwischen Ernst und Klamauk changierenden Abend voll herrlicher Musik.