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Strawinskys Bühnenwerke. Ein Handbuch, hrsg. von Monika Woitas, Laaber Verlag, Lilienthal 2022, 352 S., Abb., Notenbsp., € 48,00, ISBN 978-3-89007-910-3
Strawinskys Bühnenwerke. Ein Handbuch, hrsg. von Monika Woitas, Laaber Verlag, Lilienthal 2022, 352 S., Abb., Notenbsp., € 48,00, ISBN 978-3-89007-910-3
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Das Resultat einer neuen Wahrnehmung

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21 unbekanntere Bühnenwerke Igor Strawinskys näher betrachtet
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Obwohl längst ein Klassiker der Musik des 20. Jahrhunderts, ist ein größerer Teil der Bühnenwerke Igor Strawinskys eher unbekannt geblieben, auch unter Musikkennern. Zwar gehören die Ballette Feuervogel, Petruschka und Le Sacre du Printemps zum festen Musikrepertoire, finden sich Histoire du Soldat, Oedipus Rex und The Rake’s Progress auf vielen Spielplänen, und auch die modernen Ballette Apollon Musagète und Agon sind kaum von der Tanzbühne wegzudenken. Anders verhält es sich indes bei Werken wie zum Beispiel Renard („eine burleske Geschichte, gesungen und gespielt“), Mavra („Opera buffa in einem Akt“) oder The Flood („A Musical Play“). Was diese recht disparaten Werke miteinander vereint, ist, dass es sich um Bühnenwerke in einem offenen Sinne handelt.

Musik war für Strawinsky essentiell an den klingenden Vollzug gebunden und damit auf die Bühne verwiesen: „Wenn man Musik in ihrem vollen Umfang begreifen will, ist es notwendig, auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers zu sehen, durch die sie hervorgebracht wird“, heißt es in seiner Lebenschronik. Anders gesagt: Strawinskys Musik fordert nachgerade die Bühne. Jedoch war der Komponist bestrebt, und das mag paradox anmuten, seine Bühnenmusik auch in den Konzertsaal zu bringen. Diesbezüglich war er dann eher gleichgültig gegenüber ihren Stoffen und Handlungen und fokussierte das Interesse auf die klingende Substanz, als gleichsam absolute Musik. Die konzertante Dimension war bei fast allen Bühnenwerken eine mitgedachte und -gewünschte Option. Aber auch umgekehrt zeigte sich: Die Nicht-Bühnenmusik Strawinskys, seine Konzertmusik, verträgt nicht nur die Bühne, sondern legt sie, was zahlreiche überzeugende Choreographien unter Beweis gestellt haben, eigentümlich nahe. Das deutet auf eine innere Geschlossenheit von Strawinskys Schaffen, eine Einheit von Denken und Empfinden, in der Bewegung und Gestisches immer schon vorausgesetzt sind.

21 Bühnenwerke stellt das Handbuch in insgesamt zwanzig Werkbetrachtungen vor (die „Scènes de Ballet“ und „Danses concertantes“ aus der amerikanischen Zeit sind in einem Kapitel behandelt). Dem Handbuchcharakter entsprechend werden alle zentralen Daten und Fakten zu den Werken übersichtlich und zuverlässig referiert, angefangen vom Entstehungsprozess über Angaben zu den Vorlagen (Texte, Libretti und Szenarien), Hinweisen zur Uraufführung und Besetzung (Rollen), zur formalen Disposition und Dramaturgie. Auf die ersten und frühen Inszenierungen der Werke wird fallweise ausführlicher eingegangen (etwa bei Le Sacre du Printemps), ohne dabei eine Inszenierungsgeschichte im Engeren aufzublättern. Die Autorin verzichtet bewusst auf eine Gliederung der Werke nach üblichen Gattungen als Ballett oder Oper, da sich fast alle Schöpfungen, wie sie mit Recht betont, simplen Zuordnungen widersetzen (auch wenn diese sich zunächst aufdrängen). Wenn zum Beispiel Mavra im Untertitel als „Opera buffa“ ausgewiesen ist, „fehlt“ doch die für das Genre typische bühnenwirksame Buffo-Dialektik. Der Verzicht auf dialogische Aktion ist Programm; das Ganze tendiert zu einer humoristischen Verfremdung von Buffa-Konventionen, ohne herkömmliche Oper zu sein – dazu wäre das halbstündige Stück auch zu kurz. Auf ähnliche Weise werden Erwartungshaltungen und Denkmuster auch in anderen Werken unterlaufen und ad absurdum geführt; ein lineares, auf mitfühlenden Nachvollzug abzielendes Bühnengeschehen ist Strawinsky fremd.

Das Ordnungsprinzip des Buchs ist chronologisch, wobei die Entstehungsdaten der Werke maßgeblich sind. Die Genese der finalen Werkfassung kann sich, zumal in stilistischen Umbruchs­phasen, über Jahre hinziehen – wie etwa im Falle der frühen, noch an Nikolai Rimski-Korsakow orientierten lyrischen Oper Le Rossignol (entstanden zwischen 1908 und 1914) oder bei Les Noces („Choreographische Szenen aus Russland mit Gesang und Musik“, 1914 bis 1921), um deren abschließende klangliche Fassung Strawinsky lange gerungen hat.

Zu den Vorzügen des Buchs gehört, dass die Zeitkontexte und das künstlerische Umfeld der Werke mitbedacht und ausgeleuchtet werden – was dann zu interpretatorischen Pointierungen führt, bis in die Titelüberschriften hinein, wie zum Beispiel „Renard: Nonsens für Eingeweihte“, „Circus Polka: Strawinsky als Eulenspiegel“ oder „The Flood: Flirt mit einem neuen Medium [= das Fernsehen]“. Die Darstellung profitiert von einer gründlichen Kenntnis der amerikanischen Strawinsky-Literatur der letzten Jahrzehnte, die in bemerkenswerter Vollständigkeit rezipiert wird.

Innere Korrespondenzen der Bühnenwerke werden nur gestreift, ohne sie gründlicher zu verfolgen (was auch nicht die Aufgabe eines Handbuchs ist): etwa Sujet-Homologien, wie sie sich zwischen Le Sacre du Printemps (1913) und dem Melodram Perséphone (1933/34) aufdrängen. In beiden Werken geht es um Frühlingsriten, im Sacre um einen (imaginierten) altslawischen Fruchtbarkeitsritus, in Perséphone um dessen Erweiterung bzw. Transformation in den antiken (europäischen) Übergangsritus von Leben und Tod.

Strawinsky polemisierte zeitlebens gegen den Genie- und Inspirationskult der deutsch-österreichischen Musik, vor allem gegen die Wagnersche Idee des Musikdramas. Wesentliche Momente seiner Kunst erschließen sich vor diesem Hintergrund, man denke an die Abkehr vom Prinzip der linearen Narration und die spielerisch-lustvolle Dekonstruktion subjektiven Ausdrucks. Strawinskys Bühnenwerk ist – am leichtesten lässt es sich „negativ“ formulieren – voller dramaturgischer und stilistischer Brüche, als Resultat einer neuen Wahrnehmung, als Verkörperung eines radikalen Ausdruckswillens. Eben darin liegt sein spezifischer Reiz, und daraus bezieht es seine bis in die Gegenwart fesselnde (und fortgesetzt irritierende) Modernität. In der Vergegenwärtigung dieser Kunst gibt es noch immer Neues zu entdecken. Das vorliegende Handbuch zu Strawinskys Bühnenwerken trägt zu solchen Entdeckungen in ebenso geeigneter wie nützlicher Weise bei.

  • Strawinskys Bühnenwerke. Ein Handbuch, hrsg. von Monika Woitas, Laaber Verlag, Lilienthal 2022, 352 S., Abb., Notenbsp., € 48,00, ISBN 978-3-89007-910-3

 

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