„… das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt …“ Dieses Satzfragment aus Thomas Manns „Zauberberg“ zum Gegenstand einer Phasenverschiebung im Rahmen einer Tape-Collage zu machen, wäre eine Pikanterie in doppeltem Sinne: Zum einen würde man akustisch recht schnell einen semantischen Tod sterben, was inhaltlich exakt den technischen und ästhetischen Kern des Procedere beschreibt.
Zwischen den Disziplinen
Zum anderen könnte der linear-teleologische Ansatz der Kunstauffassung eines Thomas Mann in keinem größeren Widerspruch stehen, als zur non-intentionalen Kompositionsweise eines Steve Reich in „It’s gonna rain“ oder eines Terry Riley bei seinem Live-Rendezvous mit dem Time Lag Accumulator in den legendären „All-Night-Flights“. Doch gerade die konstruierte Pikanterie offenbart die Relevanz dessen, was als hochkonzentrierter Kraftstoff für den Antrieb nachhaltiger ästhetischer Reflexion und künstlerischer Produktivität unvermeidlich ist: Vernetzung und Konfrontation des scheinbar oder tatsächlich Gegensätzlichen. Und es sei schon an dieser Stelle vorweggenommen: Tilman Baumgärtels „Schleifen“ ist in dieser Hinsicht – und nicht nur in dieser – eine Offenbarung.
Der Autor liefert eine gründlich recherchierte Abhandlung über Ästhetik und Geschichte der Wiederholung im 20./21. Jahrhundert und fokussiert hierbei den Loop als spezifisches Gestaltungselement im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Dabei wagt er mehr als einen scheuen Blick über den Tellerrand musikalischer Kreativprozesse hinaus in den Einflussbereich anderer Künste. Und er tut gut daran, den Brückenschlag zwischen den Disziplinen in dem für die „Loop-Historie“ eingegrenzten, originären Zeitraum einer zeitlich weiter zurückgreifenden rein musikalischen Darstellung vorzuziehen.
Die Bedeutung der Repetition in der Kompositionsgeschichte im Allgemeinen wird ebenso ausgeklammert, wie sich das Nachdenken über die Wiederkehr in vorangehenden Jahrhunderten nur in einigen wenigen Zitaten, unter anderem aus Goethes „West-Östlicher Diwan“, finden lässt. Denn natürlich wäre es interessant, beispielsweise Debussys Doppelphrasen, Stravinskys Repetitionsmuster im „Sacre“ oder auch den Entwicklungsstillstand in den Bewegungsprofilen des „Rheingold“ zum technisch erzeugten Loop in Beziehung zu setzen, allein durch die Entscheidung zur Eingrenzung wird aber ein thematisches „Ausfransen“ wirkungsvoll verhindert…und es bleibt wahrlich genug übrig, den Leser durch intensitäts-gestaffelte Räume der Reflexion und des Staunens zu leiten.
Neubewertungen
Warum Staunen: Es gelingt dem Autor auf bewundernswerte Weise, das – wie oben bereits erwähnt – sich scheinbar gegenseitig Fremde durch Reduktion auf die phänotypischen Grundmuster zu den gemeinsamen ästhetischen Wurzeln zurückzuführen. Und dies funktioniert auch da, wo sich finale Klanggestalt und oft auch das jeweilige Genre nahezu diametral entgegenstehen. Man kann es nur als gleichermaßen spannend wie fordernd bezeichnen, wie die Lektüre des Buches nach und nach Pforten zu einem geweiteten wie auch differenzierteren Denken bezüglich des Loop-Phänomens zu öffnen vermag. Seien es Stockhausens unter dem Einfluss serieller Wiederholungsphobie entstandene Loop-Basteleien, sei es die unbeschwerte Experimentierlust Paul McCartneys, seien es die Entwürfe so unterschiedlicher Konzeptkünstler wie Warhol, Kesey und Roehr oder eben die vielschichtigen Ansätze der amerikanischen Minimalisten: All dies und noch viel mehr (etwa Disco-Genie Giorgio Moroder und Elvis-Produzent Sam Phillips) fügt sich nach und nach zu einer Zusammenschau, bezogen auf eine gemeinsame, alles überformende Grundidee. Gerade in den Kapiteln zu letztgenannter Künstler-„Gruppe“ führt Baumgärtels Darstellung des Weiteren zu einer Neuverteilung beziehungsweise zur Optimierung der künstlerisch-kreativen Gewichtung: So wird die Bedeutung Rileys als Impulsgeber gegenüber der Gruppe der prominenten „minimalistischen Vermarkter“ wie beispielsweise Nyman, Glass und Adams und sogar gegenüber Steve Reich neu positioniert, ja nachgerade deutlich aufgewertet. So sei Rileys nachlässiger, wenig auf Vermarktung ausgerichteter Umgang mit dem eigenen Werk größtenteils für seine Position im Schatten der anderen Minimalisten verantwortlich.
All dies ist in inspirierend-anregender sprachlicher Form, oft auch in anekdotischem Duktus gehalten, immer aber wissenschaftlich präzise auf der Basis einer weitgefächerten Bibliographie basierend angelegt. In „Schleifen“ gelingt es dem Autor, die konzeptuelle „Ödnis“ (Philipp Glass) der europäischen Avantgarde, die amerikanische Popkultur, den Minimalismus, die scheinbar dazu inkompatiblen Klangwelten des Rock’n’Roll und der Disco-Welle bis hin zu modernen Elektro-Stilistika näher aneinanderzurücken, ohne dabei den schalen Beigeschmack unzulässiger Vereinfachung hervorzurufen.
Vor allem aber fordert und ermög-licht die Lektüre eine unablässige Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeit, dem unerbittlichem Voranschreiten, wie auch dem vermeintlichen Stillstand in auf Loops basierenden Kunstwerken. Und deshalb soll nun doch der, in Sachen Loopästhetik gänzlich unverdächtige Thomas Mann das (vor)letzte Wort haben:
„Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie ,zeitigt‘. Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit misst, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebenso gut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: „Schleifen“ lesen!
Tilman Baumgärtel: Schleifen. Zur Geschichte und Ästhetik des Loops, Kadmos Kulturverlag, Berlin 2015, 352 Seiten, € 24,90, ISBN 978-3-86599-271-0