Andreas Kissenbeck: Jazztheorie, Bärenreiter, Kassel u.a. 2007, Band I: Harmonik und Skalen, 122 S., Notenbsp., € 14,95, ISBN 978-3-7618-1966-1; Band II: Improvisation mit Melodien und Voicings, 119 S., Notenbsp., € 14,95, ISBN 978-3-7618-1967-8, als Paket: € 25,95, ISBN 978-3-7618-1968-8
Noch ein Jazztheoriebuch? In skeptischer Grundstimmung könnte einem dazu zunächst Karl Valentin einfallen („Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“). Aber auch ohne spöttelnde Attitüde dürfte die Frage danach, ob in den zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte nicht alles gesagt wurde, was zum theoretischen Apparat des Jazz gesagt werden kann, einer gewissen Berechtigung nicht entbehren. Jeder Autor, der sich mit der Materie beschäftigt hat, plädiert aus verständlichen Gründen im Vorwort für die Gewichtigkeit seiner Sicht der Dinge und ihrer Darstellung. Selbstverständlich liefert auch Andreas Kissenbeck in Kapitel 0 des ersten Bandes seiner zweibändigen Jazztheorie eine sich abgrenzende Legitimation dieser Art, allein: Kissenbecks Perspektive trägt auch die Tendenz zur Zusammenschau und Würdigung musiktheoretischen Denkens aller Epochen und ihrer Ausrichtung auf musikalische Prozesse im Jazz in sich. Nicht die Darstellung individueller, personengebundener Modelle steht im Mittelpunkt, sondern die Entwicklung eines theoretischen Koordinatensystems mit eher synoptischem Charakter. In einer sehr schlüssig entworfenen Einführung in die theoretischen Grundlagen und auch im weiteren Verlauf des Buches werden Komponisten und Theoretiker unterschiedlichster Provenienz wie beispielsweise Hindemith, Schönberg, Rameau, Riemann, Sechter und so weiter immer wieder an geeigneter Stelle zur Verdeutlichung oder auch zur Provokation von Widerspruch herangezogen. Der Jazztheorie tut dieser Blick über den Zaun ausnehmend gut, ja manchmal rückt er das Bezugssystem Ursache – Wirkung aus dem historischen Blickwinkel heraus erst gerade.
Auf wohltuende Art und Weise werden die beiden – gemessen am Zeitraum ihrer Verwendung – wohl wichtigsten Darstellungsmodelle harmonischer Progression, nämlich Funktionsmodell und Stufenmodell in ihren Stärken und Schwächen dargestellt, gegenübergestellt und schließlich gemäß eines sinnvollen, weitgehend ideologiefreien Einsatzes ihren möglichen Aufgabenbereichen zugeordnet. Die Schützengräben vieler Theoriewerke weichen hier einem sachlichen Abwägen. Und dass dies auf dem Feld der meist stufenorientierten Jazztheorie stattfindet, darf als besonders bemerkenswert bezeichnet werden. Erfreulich ist auch der Hinweis Kissenbecks auf die analytische Nutzlosigkeit jeglicher Art von Darstellungsmodellen, sofern die mit ihrer Hilfe gewonnenen Erkenntnisse nicht genutzt werden, um auf übergeordnete Zusammenhänge hinzuweisen. Genau um diesen Aspekt gruppieren sich die beiden Bände seines Ansatzes: Befasst sich der erste Band mit einer Materialschau, der hierarchisch sinnvoll abgestuften Darstellung von Bezugssystemen (Skalen und Akkordbildungen) innerhalb ihrer Wahrnehmungskategorien, so zielt der Folgeband auf die methodische Verwertung der zuvor vorgenommenen kognitiven Aufbereitung im Sinne der Heranbildung improvisatorischer Kompetenz im melodischen wie auch harmonischen Bereich. Dass der Autor hier im Vorwort von Band 2 die Verwendung anderer Theoriewerke zum Erwerb der Grundlagenkenntnisse an Stelle des eigenen ersten Bandes freistellt, erscheint generös und inkonsequent zugleich: Die Beschäftigung mit der Denkweise, der aufbauenden Systematik und der Sprache des ersten Bandes erleichtert das Verständnis der Darstellung des Weges in improvisatorisches Tun mit Hilfe einer aus dem theoretischen Bodensatz entwickelten Modellvorstellung in Band 2 erheblich.Denn klarer, induktiver Aufbau, strukturelle Klarheit (Kernbegriffe werden grundsätzlich von vielen Seiten neutral beleuchtet), sinnvoller Einbezug unterschiedlichster Quellen einerseits und teilweise hohe Abstraktion in Form von blanken Verweisen auf andere Kapitel und auf die Thesen anderer Autoren, griffige Beispiele aus dem Repertoire in eher “homöopathischen Dosen“ andererseits (die drei ausführlichen Analysen in Bd. 2 ausgenommen) sind die zwei komplementären Gesichter des Werkes.
Auch ohne die Absicht der direkten Umsetzung in ein verbessertes Improvisationsvermögen: Man liest gerne und teilweise auch fasziniert in den beiden Büchern, erfreut sich an der selten anzutreffenden informativen Reichhaltigkeit der Fußnoten und an der methodischen Folgerichtigkeit in der Kapitelhierarchie. Exemplarisch sei hier der Abschnitt Reharmonisation genannt, welcher sich aus der Vorarbeit so knapp und übersichtlich wie selten ergibt.
Kissenbecks Bewusstsein darüber, dass theoretische Reflexion und ungesteuerte Intuition Gegengewichte bilden müssen, scheint auch in den hermetisch wirkenden Passagen auf wohltuende Art und Weise immer wieder durch und wird in der Auswahl des abschließenden Hindemith-Zitats plastisch spürbar.