Hauptrubrik
Banner Full-Size

Lustgewinn, enzyklopädisch

Untertitel
Mit einem Supplement- und einem Registerband ist „die neue MGG“ abgeschlossen
Publikationsdatum
Body

Und schon ist sie wieder Geschichte, „Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Zweite, neubearbeitete Auflage“, so der ebenso umständliche wie Ehrfurcht gebietende Gesamttitel dessen, was gemeinhin als „die neue MGG“ bezeichnet wird. Mit dem Registerband zum Personenteil und einem Supplement ist das insgesamt 29-bändige Opus damit nach vierzehn Jahren abgeschlossen.

Supplement: welch wunderbar altmodisches Wort in Zeiten von Updates, Relaunches und jenem Browser-Befehl namens „Aktualisieren“, der permanente Erneuerung, Verjüngung und damit natürlich Verbesserung vorgaukelt. Die französische Sprachregelung klingt da auf sympathische Weise zurückhaltender, denn natürlich kann in einem Band nicht alles das aufgearbeitet werden, was sich in der Rückschau auf 26 Bände aus den verschiedenen Teildisziplinen womöglich an Desideraten angesammelt hat.

Aber, und darin liegt die Stärke dieses finalen Druckwerks, es können zum einen durchaus noch einmal inhaltliche Akzente in Bereichen gesetzt werden, die sich zum Zeitpunkt der Konzeption in den 1990ern noch nicht so klar als enzyklopädisch relevant abzeichneten, zum anderen kann mit der Aufnahme neuer Personeneinträge der praktische Gebrauchswert noch einmal deutlich gesteigert werden. So liegt auch in den hinzugekommenen Artikeln zu Komponistinnen und Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts ein Hauptschwerpunkt des gut 600 Seiten starken Ergänzungsbandes (der MGG-Tradition folgend in 1.208 Spalten nummeriert; dazu ein Register): Knapp 180 Einträge sind hier hinzugekommen, über 60 davon zu Tonsetzern aus dem deutschsprachigen Raum. Nicht immer gelingt es dabei freilich, auf engem Raum wirklich Substanzielles zu deren Schaffen zu sagen.

Aussagekräftigen Texten zu Marc Andre, Juliane Klein, Babette Koblenz oder Tobias PM Schneid stehen schwächere etwa zu Jörn Arnecke oder Markus Hechtle gegenüber. Ähnliches gilt für Interpreten, bei denen meist noch weit kürzere Charakterisierungen genügen müssen. Erfreulich sicher der Zuwachs im Bereich populäre Musik mit guten Texten etwa zu Aphex Twin oder Bill Frisell, aber auch enttäuschenden zu Björk oder Frank Sinatra, letzterer ohne jeden Versuch, die Qualitäten seines Gesangs- und Interpretationsstils zu beschreiben oder in den Kontext seiner Zeitgenossen einzuordnen. Das gesamte Opus vor Augen, wird sich aber vermutlich ohnehin nicht der Personenteil – so hochwertig er sich, von den üblichen Qualitätsschwankungen im Einzelnen abgesehen, auch präsentiert –, sondern der Sachteil als wegweisend für künftige Generationen von allgemein interessierten Nutzern erweisen.

Denn während die Recherche nach biografischem oder werkbezogenem Material zu Einzelpersonen die Verwendung entsprechender Monografien und natürlich die Suche im Internet nahe legt, sind Überblicke über größere historische Zusammenhänge wohl nirgends in so umfassender und konzentrierter Form zu bekommen wie im 1994 bis 1998 erschienenen Sachteil (auch wenn der neunte Band mit seinen im Wortsinne unfassbaren 2.540 Spalten der praktischen Nutzung gewisse Grenzen setzt).

Das Supplement kann an diese Qualität (als Beispiele seien die Einträge „Elektroakustische Musik“, „Symphonie“ und der große Komplex „Musik und …“ genannt) mit zwei Artikeln anknüpfen, denen es gelingt, ihren allein schon begrifflich prekären Gegenstand klar, facettenreich und doch problembewusst zu behandeln: Wer einen prägnanten Überblick zu den flotter zu benutzenden denn zu definierenden Etiketten „Postmoderne“ und „Weltmusik“ sucht, wird hier in neun beziehungsweise gut sechzehn Spalten fündig. Nützlich sind außerdem die Einträge „Klangkunst“, „Klezmer“ oder „Netzmusik“, anregend jene zu den Bereichen „Musik als Text“ oder „Werk – Opus“, während der Artikel „Regionalforschung“ wohl kaum einen Nicht-Musikwissenschaftler zu dieser Disziplin bekehren dürfte.

Mit dem Stichwort „Gender Studies“ ist nun außerdem ein Teilgebiet vertreten, das in den 1990ern anscheinend noch nicht als MGG-würdig erachtet wurde. Der Beitrag bietet einen guten Überblick über die Forschungsgeschichte und -desiderate, aber keine echte Diskussion des Gegenstandes, hier wäre ein Eintrag „Musik und Gender“ wohl spannender gewesen. Zu einem guten Ende ist mit dem Supplement-Band nun auch die enzyklopädische Aufarbeitung der Gattung Oper gekommen, jenes Feld also, das Herausgeber Ludwig Finscher (der dieses Amt kurz vor Abschluss des letzten Personenbandes niederlegte) in seinem Vorwort von 1994 als exemplarisch für die neue Konzeption der MGG benannt hatte. Denn deren Schönheitsfehler bestand darin, dass ausgerechnet der übergreifende Artikel „Oper“, der diejenigen zu den Teilgattungen „Dramma per musica“, Drame lyrique“, „Singspiel“, „Musikdrama“, „Musiktheater“ et cetera miteinander verklammern sollte, im Teilband 7 fehlte (lediglich eine Bibliografie erschien dort). Diese zusammenfassende Abrundung ist nun überzeugend erfolgt, man vermisst freilich konkrete Verweise auf die verwandten Einträge, wie überhaupt das System von Querverweisen in der neuen MGG insgesamt nicht konsequent durchgeführt ist.

Abhilfe schaffen die Register, wobei sich hier die Trennung von Sach- und Personenteil ungünstig auswirkt und im Zweifelsfalle in drei Registern (inklusive des Supplements) gesucht werden muss. Dass man den Band nach dem erfolgreichen Nachschlagen und Nachlesen garantiert nicht gleich wieder zuklappt, sondern sich festliest, möglicherweise in Artikeln, nach denen man gar nicht gesucht hat, das ist der entscheidende Lustgewinn, den eine Enzyklopädie diesen Ranges bietet. Oder wie Laurenz Lütteken, gewiss ein wenig zu netzfeindlich, in seinem schönen Epilog schreibt: „Eine Enzyklopädie fordert darüber hinaus zur mäandernden Lektüre auf, zur Erschließung unerkannter Erinnerungsräume, zum altmodischen Stöbern, das uns die elektronischen Medien gegen alle Raison so erbarmungslos austreiben wollen.“

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!