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Michael Zwenzner: Klappentext. Gespräche mit Enno Poppe (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz u. a. 2023, 320 S., € 36,99

Michael Zwenzner: Klappentext. Gespräche mit Enno Poppe (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz u. a. 2023, 320 S., € 36,99.

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„Musik ist mir meist absolut klar“

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Der Gesprächsband „Klappentext“ mit und über Enno Poppe
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Michael Zwenzner: Klappentext. Gespräche mit Enno Poppe (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz u. a. 2023, 320 S., € 36,99, ISBN 978-3-7957-8509-3

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Er ist einer der produktivsten, vielseitigsten, profiliertesten und international erfolgreichsten Komponisten seiner Generation. Er schreibt Solo-, Kammer-, Ensemble-, Orchestermusik und kreiert ungewöhnliche Musiktheaterformate. Zudem nutzt er Computer, Elektronik und verschiedene Stimmungssysteme, betätigt sich als Keyboarder und Dirigent. Doch über Musik äußert er sich nur spärlich in Interviews und Werkkommentaren. Enno Poppe zählt sich selbst nicht zu den „großen Spurenlegern“, sondern misstraut als „absoluter Vertreter des autonomen Kunstbegriffs“ der Wortsprache, weil diese nie wirklich die Musik trifft und häufig bloß als „Verkaufsargument“ dient. In einem vorsichtshalber zum „Klappentext“ deklassierten Gesprächsband hat er sich nun gleichwohl ausführlich geäußert.

Wer sich für den 1969 in Hemer geborenen Musiker interessiert, kommt an diesem 320 Seiten umfassenden Buch nicht vorbei. Die transkribierten, gut redigierten und eingekürzten Gespräche führte Michael Zwenzner an vier Tagen im September 2019 und Januar 2020 in Poppes Berliner Wohnung. Der Musikwissenschaftler war von 2002 bis 2013 als Lektor und Promotion Manager beim Ricordi-Verlag in München auch für Poppe zuständig. Der Komponist entwickelt seine Gedanken spontan und beschreibt anschaulich Besetzung, Materialität und Formbildung seiner Werke sowie Prozesse von Wachstum und Entropie kleinster Zellen. Er vertraut seinen Hörerfahrungen, Intuitionen, Gefühlen, Assoziationen und äußert sich zuweilen salopp und meinungsstark, was polarisiert und die Lektüre besonders anregend macht.

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Michael Zwenzner: Klappentext. Gespräche mit Enno Poppe (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz u. a. 2023, 320 S., € 36,99

Michael Zwenzner: Klappentext. Gespräche mit Enno Poppe (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz u. a. 2023, 320 S., € 36,99.

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Die ersten fünf Kapitel behandeln chronologisch Kindheit, Jugend, Studium und Werdegang. Im Elternhaus wird viel musiziert, Klavier- und Kammermusik gespielt. Der Vater ist Musiklehrer, spielt Orgel in der Kirche, organisiert und gibt Konzerte. Neue Musik erlebt der Sohn im Radio und bei den Tagen für neue Kammermusik im unweit gelegenen Witten. Schon als Teenager komponiert er Klaviertrios, Klaviersonaten und Streichquartette, zuerst neoklassizistisch wie Strawinsky, dann in Anlehnung an Schönberg, Berg und Webern. Er nimmt an „Jugend komponiert“ teil und gewinnt dort mit 14 Jahren einen Preis. Der Wunsch Komponist zu werden, steht da bereits fest. Als Gymnasiast sieht er in Streichquartetten ein „Aufbegehren“ und in Kammermusik­abenden so etwas wie eine „aussterbende Vogelart“ angesichts des komplett mit Popkultur sozialisierten Bürgertums. Beethoven und Brahms sind ihm keine Last der Tradition, sondern Verbündete bei der Rebellion gegen die „Mehrheitsmusik“ von Madonna und Michael Jackson: „Die Leitkultur – das ist das Gedudel.“

Bei den Weltmusiktagen in Köln 1987 erlebt Poppe Musik von Scelsi, Cage und Nonos Streichquartett. Als Student in Berlin bei Friedrich Goldmann liest er viel, saugt alles auf und begeistert sich für Feldman, Stockhausen, Boulez, Grisey, Spahlinger, Kyburtz, Ablinger, Finnendahl und koreanische Musik. Als Korrepetitor und Dirigierassis­tent sammelt er Erfahrungen mit unterschiedlichen Instrumentalisten und Sängerinnen. 1998 wird er Leiter des im Vorjahr gegründeten Ensemble Mosaik. Seitdem zieht er viel Kraft und Anregung aus der Zusammenarbeit mit Musikern. Die Aufführungen seines „Knochen“ durch das Ensemble Modern eröffnen ihm ab 2000 neue Türen und Aufträge. Er komponiert viel, zuweilen auch schnell, bislang 120 Werke, arbeitet am Schreibtisch ohne Klavier, singt aber alle motivischen Partien. Er denkt ternär in den drei Kategorien „gleich – ähnlich – verschieden“ und bekennt sich zur berauschenden Kraft von Musik: sie „muss dich packen und irgendwo hinziehen und nicht mehr loslassen“.

Am Computer und bei Proben erschließt sich Poppe hörend den melodischen und harmonischen Umgang mit Mikrotönen. Er entwickelt äquidis­tante Skalen aus Viertel- oder Dritteltönen sowie Reihen mit zu- oder abnehmenden Intervallen. 

Statt reiner Naturtöne sucht er das „Unreine“. Oft denkt und handelt er ganz pragmatisch. Einzelne Sätze und ganze Werke verdanken sich Ausgliederungen, Abspaltungen, Neu- oder Wiederverwertungen bereits bestehender Stücke. „Koffer“ ist eine Instrumentalsuite seines Musiktheaters „IQ“. Das elfminütige Stück „Scherben“ ist mit elf Musikern besetzt und in elf mal elf Teile gegliedert. 

Für „Holz“ (2000) dient die „Wäscheleine als Sinnbild für die Formbildung“, weil sich an die solistische Klarinettenstimme verschiedene Besetzungsvarianten „aufhängen“ lassen. Die poppesken Werktitel sind „dezidiert antimetaphysisch“ gemeint, etwa „Fleisch“ und „Hirn“. Andere wie „Tier“, „Zug“, „Trauben“, „Speicher“ oder „Haare“ erhellen bestimmte Bewegungsformen, Klanglichkeiten, Charaktere und Verläufe. „Salz“ verdankt sich schlicht dem Kompositionsauftrag der Salzburger Festspiele.

Das letzte Kapitel „Auskünfte zu eigenen Werken“ umfasst mit 160 Seiten die Hälfte des gesamten Buchs. Poppe kommentiert mehr oder minder detailliert alle seine Werke zwischen „Knabenträume“ (1995) und „Körper“ (2021). Man erfährt viel über Auftraggeber, Entstehungsgeschichte, Formideen, Aufführungspraxis, Wirkungsgeschichte. Die werkzentrierte Sicht geht folglich auf Kosten anderer Aspekte wie Ästhetik, Politik, Gesellschaft, Publikum, Musikleben, Medienlandschaft. Auch gezielte Konfrontationen des Komponisten mit Befunden der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur wären interessant gewesen. Komplettiert wird der lesenswerte und sorgfältig lektorierte Band durch Werkverzeichnis, Diskografie und Personenindex.

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