„Provokante Thesen und spannende Experimente ergänzen die theoretischen Grundlagen“, so liest es sich auf dem Klappentext des Buches mit dem bereits leicht provokant anmutenden Titel „Entfesselte Klassik. Grenzen öffnen mit künstlerischer Musikvermittlung“ der Schweizerin Barbara Balba Weber.
Hält man das Buch erstmalig in den Händen, fällt zunächst die fantasievoll durchdachte Typografie auf: Rosa, weiße und gelbe Seiten mit grünlicher Schrift in unterschiedlichen Fonts prägen jeden der sieben sogenannten „Schritte zu einer künstlerischen Musikvermittlung“ und markieren eine besondere Struktur zwischen einem wachrüttelnden Titel und einer Kapitel leitenden These, einem autobiografischen Input und einigen theoriebasierten Überlegungen sowie einem zum Lehrwerk tendierenden Praxis- und Materialleitfaden. Letzterer wird jeweils auf der ersten Seite von scherenschnittartigen Figurinen und musikbezogenen Symbolen eingeleitet.
Intensiver Dialog
Das gesamte Buch steht unter der von der Autorin eingangs formulierten Fragestellung, wie Musikschaffende, Publikum und die Musik selbst neue Verbindungen eingehen können, damit auf allen Seiten ein Mehrwert entsteht. Mehrwert sei wohl überwiegend im Sinne eines intensivierten Dialogs zwischen Publikum, Akteuren auf der Bühne und der von ihnen präsentierten Musik zu verstehen. Ob die Autorin dabei auch einen wirtschaftlichen Mehrwert im Hinterkopf hatte, bleibt in diesem Buch auf sympathische Weise offen. Vielmehr hinterfragt Barbara Balba Weber zu Beginn jedes der sieben Themenfelder in Form eines fiktiv anmutenden Dialogs leicht provozierend einige hartnäckige Gewohnheiten des Klassikbetriebs und schreckt dabei vor Überzeichnungen und zielgruppenspezifischen Klischees nicht zurück. Laut eigener Aussage begibt sie sich damit auf die Suche nach konkreten Antworten bezüglich einer passgenauen Forderung nach kultureller Teilhabe. Ihr eigener Mut zu einer „undisziplinierten Mischung in Form einer multidisziplinären Kombination verschiedener Disziplinen“ bildet für sie die Grundlage des Buches in Kombination mit einer „gewissen theoretischen Basis“.
Letztere ist anschaulich verfasst und beruht neben den eigenen Ausführungen auf Überlegungen, welche sich von fachlich erfahrenen Leserinnen und Lesern schnell einigen einschlägig bekannten Autorinnen und Autoren der internationalen Musikvermittlungsszene zuordnen lassen. Diese werden im Anhang auch explizit genannt, im Text selbst finden sich jedoch keinerlei Belege. Ein einleitender Grundlagenteil fokussiert aus einem kritischen „Change“-Bewusstsein heraus eine offene Perspektive auf die klassische Musikszene und zeigt viele bedeutsame Impulse für eine potenzielle Zukunft des traditionellen Musikbetriebs mithilfe einer sogenannten künstlerischen Musikvermittlung auf. Dabei werden zahlreiche relevante Aspekte erwähnt, die einen respektvollen Blick auf professionelle klassische Musikerinnen und Musiker, ein mitdenkendes Publikum und kulturpolitische Machtverhältnisse werfen. Die kapitelartig angelegten „sieben Wege zu einer künstlerischen Musikvermittlung“ greifen einige Grundlagenaspekte im Verlauf des Buches wieder auf und beschäftigen sich mit den Themen wie „Amateure mit Lizenz zum Ändern“, „Klezmer für Bayreuth, Wagner und Netflix“ oder „Musik ist keine heilige Kuh“. Jedes Themengebiet beginnt nach einer auf Veränderung abzielenden These (darunter „Systemveränderungen“, „Gap-Veränderungen“ und „Musikveränderungen“) mit einem Briefwechsel zwischen der Autorin und einer ihr gegenüber kritisch eingestellten Person. Darüber, inwiefern diese Schriftwechsel real oder fiktiv sind, kann nur spekuliert werden, auch wenn es ein wenig schwerfällt, sich vorzustellen, dass solche Briefe einer lebendigen künstlerischen Praxis entsprungen sein sollen.
Experiment
Die gelben Seiten, betitelt mit „Experiment“, beschreiben auf anschauliche Weise konkret durchgeführte Projekte. Sie tragen markante Titel wie „A Look into Wonderland“, „Hades und Sirene“ oder „Doctor Who“ und regen zum Nachahmen und Weiterentwickeln ein. Musikalisch bewegen sich die Anregungen neben traditionellen Kompositionen, etwa von Schubert und Messiaen, in einem weiten Spektrum zwischen improvisierter Musik, Volksmusik, Jazz-Standards, einer eigenen Kollektivkomposition sowie syrischen und schweizerischen Textvorlagen als Basis für Klangteppiche. Dass hinter all den Projekten eine künstlerische Idee mit einer ihr eigenen künstlerischen Kraft steht, erschließt sich anregend und unmittelbar. Dennoch lässt sich bei dem Beharren auf dem Zusatz „künstlerische“ in Bezug auf die Musikvermittlung nicht vollends leugnen, dass das Arbeitsfeld hier offenbar gleichzeitig oder unterschwellig auch um seine explizit künstlerische Anerkennung ringt. Dies verwundert umso mehr, als das Buch keinerlei Ansprüche erhebt, eine wissenschaftlich fundierte, musikwissenschaftliche, musikpädagogisch orientierte oder irgendwie anders geprägte Musikvermittlung sein zu können.
Vielmehr ist das ganze Buch von der Leitidee einer künstlerischen Freiheit der Autorin geprägt, den Lesenden Mut zu machen, von Normen des traditionellen Konzertlebens bewusst abzuweichen, um etwas Eigenes künstlerisch darzustellen und kompositorisch oder schöpferisch zusammen mit dem Publikum als Akteur neu zu gestalten. Inwiefern dieses Neue dann wirklich entfesselt ist oder entfesselnde Wirkung zeigen kann, lässt das Buch offen. Im Sinne der Synonyme disziplinlos, enthemmt, hemmungslos, schrankenlos, undiszipliniert und zügellos, welche der deutschsprachige Duden für den Terminus „entfesselt“ anbietet, vermisst man hier weitere Details. Umso mehr freut man sich über zahlreiche Literaturempfehlungen zur Musik- und Kulturvermittlung, die den Abschluss des Buches bilden.
Wer vor dem Preis von 34 Euro nicht zurückschreckt und damit leben kann, dass Quellenangaben, direkte Querverweise und Textbelege fehlen, findet in dem Buch einige unkonventionelle und in der Praxis bewährte Anregungen, die zum Weiterdenken und Sich-Erproben einladen und sicher auch vielen ähnlichen Situationen an anderen Orten standhalten können.
- Barbara Balba Weber: Entfesselte Klassik. Grenzen öffnen mit künstlerischer Musikvermittlung, Stämpfli Verlag, Bern 2018, 144 S., € 34,00, ISBN 978-3-7272-6009-4