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Zwei Personen in Schwarzweiß unterwegs auf der Straße.
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Rastloses Bemühen eines Universalisten

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Die Weimarer Musikreform Leo Kestenbergs unter der Lupe
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Dietmar Schenk: Menschenbildung durch Musik. Leo Kestenberg und Weimars Musikreform 1918–1932. edition text + Kritik, München 2023, 437 S., Abb., 42,00 €, ISBN 978-3-96707-518-2

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Leo Kestenberg (1882–1962) gehört zu den faszinierenden Persönlichkeiten der Kulturszene in der Weimarer Republik. Seinem Credo „Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik“ folgte er in unterschiedlichen Funktionen ein ganzes Leben lang. Bis heute spricht man bei Fragen der Musikerziehung von den „Kestenbergschen Reformen“, womit zum Teil bis in die Gegenwart nachwirkende Reformen in musikalischer Ausbildung und Erziehung gemeint sind. Nachdem in den vergangenen Jahren nach und nach Kestenbergs „Gesammelte Schriften“ erschienen sind, hat jetzt einer der Mitherausgeber, der Berliner Historiker und Archivar Dietmar Schenk, Kestenbergs wichtigste Jahre als Kulturpolitiker in der Weimarer Republik in aller denkbaren Breite vorgestellt. 

Denkbare Breite – in der Tat muss man bei Kestenberg ganz unterschiedliche Bereiche berücksichtigen. Der aus Ungarn stammende Sohn eines jüdischen Kantors war geradezu ein Tausendsassa: Pianist (bis hin als Solist bei den Berliner Philharmonikern), Klavierpädagoge, Publizist, Organisator, Ministerialbeamter im preußischen Kultusministerium und vor allem zeitlebens glühender, vor 1914 geradezu kämpferischer Sozialist. Als 17-jähriger war er Meisterschüler bei Ferruccio Busoni, stürzte sich aber dann in die Organisation von verbilligten Theater- und Konzertveranstaltungen für die große Klasse der Arbeiter und heuerte nach 1914 beim expressionistischen Verlag Paul Cassirer als Geschäftsführer an.

Am 1. Dezember 1918 wurde Kestenberg Musikreferent im preußischen Kultusministerium, bis er, zuletzt Ministerialrat, bald nach Papens „Preußenstreich“ 1932 entlassen wurde. In diesen Jahren hatte sein rastloses Bemühen, durch Reformen, Berufungen, Neugründungen und Manifeste zu einer „besseren menschlichen Gesinnung durch Musik“ beizutragen, einige schöne Erfolge. Begünstigt und gefördert wurde sein Eifer von dem gleichermaßen reformfreudigen Kultusminis­ter Carl Heinrich Becker (1876–1933). Nicht nur durch Ministerpräsident Otto Braun, sondern auch durch Becker wurde Preußen in der Weimarer Republik zu einem „Leuchtturm der Demokratie“.

Einer von Kestenbergs Schwerpunkten zielte auf eine verbesserte Musikerziehung, angefangen bei der Schulmusik (Musiklehrer wurden anderen Lehrkräften gleichgestellt) bis hin zu den Hochschulen. Kestenberg betrieb eine virtuose Berufungspolitik; an die Akademie der Künste konnte er Arnold Schönberg, Ferruccio Busoni und Paul Hindemith verpflichten, an die Hochschule für Musik Franz Schreker, in deren „Schlepptau“ später bekannte Komponisten wie Ernst Krenek, Alois Hába, Winfried Zillig oder Harald Genzmer nach Berlin kamen. Das kurze Experiment der Kroll-Oper (1927–1931) scheiterte sowohl an den Finanzen als auch an der wachsenden politischen Polarisierung.

Im Herbst 1923 war mit ersten Sendungen der Rundfunk in Deutschland gestartet. Beckers Ministerium erkannte rasch dessen Bedeutung und äußerte, der Rundfunk habe eine „Instanz der Kultur“ zu sein (ARD und ZDF ins Stammbuch!). Gerade jüngere Musiker erkannten sofort, welch neue Berufsmöglichkeiten sich boten. Es ist das vielleicht spannendste Kapitel des Buches. Kestenberg installierte  an der Hochschule für Musik eine „Rundfunkversuchsstelle“, an der mit geeigneten Instrumenten, Tonfilm und elektrischer Musik sowie zu „funkendem“ Sprechen und Musizieren experimentiert wurde. Aus der Industrie kamen Techniker, unter anderem der Ingenieur Friedrich Trautwein, der das „Trautonium“ entwickelte, für das Paul Hindemith mehrere Stücke schrieb. 

Fast zwangsläufig war ein derart innovativer Politiker extremen Anfeindungen ausgesetzt. Er wurde als „Musikdiktator“ und „Kulturbolschewist“ beschimpft, hatte in Becker aber immer einen sicheren Rückhalt. Doch im März 1933 floh das Ehepaar Kestenberg nach Prag, 1938 weiter nach Palästina, wo es sesshaft wurde. In Prag hatte Kestenberg noch die Internationale Gesellschaft für Musikerziehung angestoßen; in Tel Aviv wurde er Manager des Palestine Orchestra. 1953 war er noch einmal für mehrere Monate in Deutschland, das ihn freundlich und mit zahlreichen Ehrungen empfing.

Der Leser gewinnt den Eindruck, dass das Buch unter Einbeziehung aller nur möglichen und erreichbaren Quellen geschrieben wurde. Der Autor resümiert am Ende kurz den aktuellen Forschungsstand und grenzt sich dabei gelegentlich auch von anderen Darstellungen ab; das Bild vom „Musikpapst“ Kestenberg, wie es jüngst auftauchte, ist in seinen Augen nichts als ärgerlich. 
Die angestrebten und teilweise auch erreichten Reformen Carl Heinrich Beckers im größeren Rahmen der preußischen Kultur- und Bildungspolitik und Kestenbergs Innovationen im Musikwesen zählen zu den wenigen geglückten Entwicklungen in der Weimarer Republik. Fast etwas wehmütig denkt man am Ende darüber nach, was aus der Republik hätte werden können, wenn sich auch in größeren gesellschaftlichen Bereichen demokratische Reformen durchgesetzt hätten.           

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