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Sehnsucht nach dem Authentischen

Untertitel
Udo Zimmermann: unverbesserlicher, von der Realisierbarkeit seiner Träume Überzeugter
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Frank Geißler/Brunhild Matthias (Hg.): Man sieht, was man hört. Udo Zimmermann über Musik und Theater, Reclam Leipzig, Leipzig 2003, 256 S., Abb., ISBN 3-379-00810-9, € 39,90

Er war Sängerknabe im Dresdner Kreuzchor, wollte in Dresden zunächst Gesang und Dirigieren studieren und geriet fast durch Zufall zum Komponieren – weil er wegen einer Erkältung durch die Gesangs-Aufnahmeprüfung fiel. Nach einer Assistentenzeit bei Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin war er Dramaturg an der Dresdner Staatsoper. Seine erste Oper „Die weiße Rose“, 1967 noch für das Opernstudio der Dresdner Musikhochschule entstanden, war auch gleich der Durchbruch und ist sein bekanntestes Werk geblieben. Gründer der Konzertreihe „Studio Neue Musik“, Leiter der Werkstatt für zeitgenössisches Musiktheater in Bonn, Leitung des Dresdner Zentrums für Zeitgenössische Musik und der „Musica Viva“ in München, Intendanzen an den Opern in Leipzig und Berlin – spätestens hier fragt man sich, wie viele Leben Udo Zimmermann eigentlich hat.

Tatsächlich ist es nur ein einziges, rastloses und äußerst kreatives, das soeben sein sechzigstes Jahr vollendet hat. Es kreist um das Musiktheater in allen erdenklichen Formen und Facetten. „Man sieht, was man hört“ heißt denn auch der von dem Musikwissenschaftler Frank Geißler herausgegebene Band, der diese Vielseitigkeit mit Schriften von Zimmermann, Interviews und Portraits zu würdigen versucht. Die Schlagworte „Musik erfinden“, „Musik inszenieren“, „Musik fördern“ und „Musik und Kunst in der Gesellschaft“ kreisen jeweils „Spielräume“ für eigene Werke, für Visionen von Inszenierungen und neuen Klangmöglichkeiten oder „Sprachräumen“ für kulturpolitische Auseinandersetzung ein. Dabei erscheint Zimmermann weniger als der „Macher“, für den man ihn seinen Aktivitäten nach vielleicht halten könnte, vielmehr als ein unverbesserlich von der Realisierbarkeit seiner Träume Überzeugter, der auch Sehnsüchte und Selbstzweifel freimütig einräumt. Bereits im Kreuzchor unter dem akribisch strengen Leiter Rudolf Mauersberger seien Leistungsdruck und Versagensangst entstanden, die ihm später gerade das Komponieren schwer gemacht hätten: „nie habe ich einen Termin gehalten“. Dass aber etwa in den Achtziger Jahren die Produktion spärlicher wird, führt er eher darauf zurück, dass es ihn zu den damaligen Umbruchzeiten in die unmittelbarer wirksame Praxis der Opernarbeit drängte. Die Arbeit an der Leipziger Oper gleich nach der Wende versteht er als „Gegenbewegung gegen eine ungeheure geistige und ästhetische Stagnation“, Auswirkung der Lethargie, die durch die verunsichernde Veränderung fast aller Lebensbereiche aufkam. Selbst die glücklose Generalintendanz an der Deutschen Oper Berlin war noch von dem Versuch geprägt, „Oper als ein Teil zeitgenössischer Zeugenschaft zu begreifen“ und damit ein Bewusstsein für gesellschaftliche Entwicklungen zu schärfen, in denen „viele Menschen allmählich des Konsenses der äußeren Sicherheiten, der Warenherrschaft müde geworden“ seien und „Sehnsucht nach dem Authentischen“ entstehe.
Zimmermann fand die Regisseure, die solche Sichtweisen in lebendige, bühnenwirksame Aktion umsetzen konnten. Mit ausführlichem Bild- und Pressematerial werden die wichtigsten Inszenierungen seiner Intendanzen dokumentiert. „Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek, John Dews Mozart/Da Ponte-Zyklus, Erwin Schulhoffs deutsche Erstinszenierung der „Flammen“, Stockhausens „Licht“-Opern oder Schönbergs „Moses und Aron“, von George Tabori inszeniert, belegen eindrucksvoll den Mut und die Phantasie, mit der Zimmermann dem zu DDR-Zeiten „muffigen“ Haus internationale Geltung verschaffte. In Berlin spricht etwa Hans Neuenfels’ „Idomeneo“-Inszenierung dafür, welch unermesslicher Schaden durch Zimmermanns vorzeitigen, durch Personalquerelen und Machtkämpfe verursachten Weggang entstanden ist. Auch die Kommentare eigener Werke lesen sich geradezu als Lehrgang in Utopie, als Traum vom anderen Ufer, zu dem man nie gelangen kann, das jedoch von entscheidender Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung ist. Und wenn auch Sätze wie „Das erkennende Herz vermag manchmal mehr und Tieferes als der Verstand [...] zu erfassen, von menschlicher Tragik, dass ein Mensch seine Berufung gefährdet und verfehlt, weil er im unabdingbaren Wagnis der Selbstfindung sich auch immer wieder selbst in Frage stellen wird“ leicht redundant-überspannt klingen, so fasziniert doch in diesem Band immer wieder das Ringen um die Einheit von Hören und Sehen, Kunst und Leben, Musik und Politik eines Visionärs, wie es in unserer zunehmend buchhalterisch bestimmten Welt viel zu wenige gibt.

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