Eine Schlüssel-Szene wenn schon nicht der Literatur, so doch ihres Betriebs in den 80er-Jahren: Sie zitiert Motive der Avantgarde und ihrer Schock-Ästhetik, bricht sie ironisch und versucht sie, „authentizistisch“ und medienbewusst zugleich, zu überbieten. Rainald Goetz wusste, wie ein gutes Dutzend Jahre vor ihm der Sixties-Pop-Autor Peter Handke, dass man nicht partout einen Preis gewinnen muss. Es reicht, wenn man ein Zeichen setzt: Berühmt ist der, der für immer mit einem Ereignis verbunden wird.
Ein junger Mann im geschmackssicheren Anzug, androidisch blondiert und auch sonst ganz à la mode betritt ein Podium, setzt sich, schaut den Anwesenden ins Gesicht und ritzt sich mit einer Rasierklinge die Stirn auf. Während ihm das Blut blutrot übers Gesicht läuft, beginnt er zu lesen. Plötzlich schreit eine Frau aus dem Publikum, schon leicht hysterisch: „Holt denn niemand einen Arzt?!“ und erhält vom Veranstalter nur den coolen Bescheid: „Der Mann ist selbst Arzt!“ Eine Schlüssel-Szene wenn schon nicht der Literatur, so doch ihres Betriebs in den 80er-Jahren: Sie zitiert Motive der Avantgarde und ihrer Schock-Ästhetik, bricht sie ironisch und versucht sie, „authentizistisch“ und medienbewusst zugleich, zu überbieten. Rainald Goetz wusste, wie ein gutes Dutzend Jahre vor ihm der Sixties-Pop-Autor Peter Handke, dass man nicht partout einen Preis gewinnen muss. Es reicht, wenn man ein Zeichen setzt: Berühmt ist der, der für immer mit einem Ereignis verbunden wird. Natürlich war diese sehr kontrollierte Selbstverstümmelung eine PR-Aktion. Sie konnte aber nur gelingen, weil man sie ohne weiteres mit dem Psychogramm eines Autors verband, der sein Berufsleben als Psychiater begann und mit einem, scheinbar zumindest, autobiografischen Roman namens „Irre“ als Romancier debütierte.Goetz war ein Von-allem-was-es-gibt-Besessener; ein Schreib-Maniac, der, gleichsam in Echtzeit, alles, was ihm persönlich oder medial widerfuhr, protokollierte, dessen Wahrnehmung so übergenau war, dass sie merkwürdig ver-rückt schien. Seinen Denk-Zwang machte er zum poetischen Programm: „Kontrolliert“. Seine Stücke nannte er „Krieg“, seine Essays „Hirn“, das weltgeschichtliche Wendejahr „1989“ schrieb er, vor dem Fernseher sitzend, mit. Und stets hatten bei ihm erbarmungslose Kritik, ja Denunziation eine Kehrseite: nämlich die rückhaltloseste Bejahung, eine Verehrungs- und Folge-Bereitschaft, die einen gelegentlich schwindeln machen konnte.
Kein anderer hat sich Rimbauds Losung, dass der Künstler absolut modern sein müsse, so sehr zu eigen gemacht wie Rainald Goetz. Er suchte nach der raschesten Methode, das Gegenwärtige oder gerade eben erst Entstehende zu erfahren und die aktuelle, gerade eben jetzt gültige Wahrheit über die Welt auszusprechen – und das war eben Pop. Kein Wunder, dass er erst die Nähe des Pop-Zentralorgans „Spex“, wo in den 80er-Jahren seine großen autobiografischen Essays erschienen, und dann der Techno-DJs suchte.
Der Schriftsteller Rainald Goetz verlangt nach der jeweils avanciertesten Form. Er findet sie nicht zwangsläufig in der etablierten Literatur. Alles kann zum Zeichen werden: Musik, Party, die Gefühle der Nacht. Rainald Goetz verwandelt es in Text. Aber was scheinbar nur atemlose Mitschrift ist oder der fast schon trans-grammatische Versuch, Sounds in Sätze zu transformieren, ist nie nur naives Notat.
Goetz weiß, dass es Wirklichkeit bloß in einer Welt der Zeichen gibt, wo sie erscheinen kann. Er will die absolute Erfahrung, das Entrückt-Sein, die Ekstase, und es ist ihm scheinbar jedes Mittel recht, auch der Exzess, die Selbst-Zerstörung, die Droge. Aber er weiß, dass es das reine, nicht-kodierte Sein nur für den Psychotiker gibt. Der Party-Gänger gibt sich als Fan des Philosophen Hegel und des Systemtheoretikers Luhmann zu erkennen.
So wie „Rave“, von Goetz ausdrücklich als „Erzählung“ bezeichnet, das mehr oder minder fiktive Porträt einer Musik-und-Daseins-Szenerie ist, ein Pop-Mythos aus dem Techno-Universum, in dem Authentizität durch gelegentlich aufdringliches Name-Dropping verbürgt wird, so geht Goetz in seinem nächsten Projekt noch einen Schritt weiter: Er macht seine private Existenz und seine sozialen Beziehungen zum Experimentierfeld. Er schreibt Tagebuch und stellt seine Notizen sofort ins Internet – Fans und Feinde können „live“ dabei sein, wie der Autor lebt. Die permanente Lektüre und Kontrolle dieses Lebens verändert es.
Was zuerst wie ein Ausstieg aus der Gutenberg-Galaxis erscheint, erweist sich am Ende als triumphale Variante. Das flapsig „Abfall für alle“ betitelte Internet-Tagebuch verwandelt sich in den „Roman eines Jahres“: die Bildungsgeschichte eines Intellektuellen und die Chronik einer Epoche, ein Chef-d’oeuvre im Suhrkamp-Verlag.
Wie selbstreflexiv und selbstreferentiell der Pop-Autor Goetz ist, zeigt seine jüngste Erzählung „Dekonspiratione“, das Tag-Gegenstück zum nächtlich-düsteren „Rave“. Da bekommen Romanfiguren vom Autor ein Fax – und werden mittendrin von ihm beiseite geschoben und abgelöst. Der Kosovo-Krieg und seine Darstellung in den Medien hat bei Goetz zu einer Identitäts- und Schreib-Krise geführt, deren Erörterung jetzt an die Stelle der Geschichte tritt. Im Pop-Universum, zwischen Rave, Internet und Fernseh-Krieg, verwirklicht sich auf gespenstische Weise, wovon einst die Avantgarden träumten: die Realität wird zunehmend „virtuell“ – und sechs Personen suchen nicht nur ihren Autor, sondern finden ihn auch und sind mit ihm per Du.
Rainald Goetz: Rave; Abfall für Alle; Dekonspiratione. Alle im Suhrkamp Verlag.