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Vermächtnis, Warnung und Vision

Untertitel
Die Kunst- und Lebensbilanz des Intendanten Gerard Mortier
Publikationsdatum
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„Clarté“ – diese alle anderen europäischen Aufklärer überragende französische Geisteshaltung prägt das Buch: kein gewichtiger Wälzer, kein Fach-Chinesisch, kein intellektuelles Geschwurbel. Bis vier Wochen vor seinem Tod hat Gerard Mortier die Drucklegung der deutschen Endfassung begleitet. Den zehnmonatigen, körperlich auszehrenden Kampf gegen den Krebs hat er zwar verloren, doch seine geistige Brillanz blieb unbeeinträchtigt: 103 Seiten Text, glasklar gegliedert, Personenregister, Aufstellung seiner Produktion von 1981 bis 2014, Danksagung – fast in der Westentasche zu tragen… und genau das wäre diesem dezidierten Vermächtnis zu wünschen: dass alle „Theatraliker“ darin nachschauen, darüber nachdenken, sich daran „abarbeiten“.

Entsprechend seiner lebenslangen Liebe zum musikalischen Theater, seiner Praxis und Erfahrung hat Mortier gegliedert: in sieben Kapiteln wird eine Dramaturgie des Genres, der Architektur der Spielorte, des Spielplans, der Werktreue, der Kommunikation, der Uraufführungen und der Arbeit mit Künstlern bestechend und mit Querverweisen durch alle Kunstgattungen klargelegt. Ohne biographische Eitelkeit fließen dabei die Stationen vom Flandern Festival über die prägenden Aufstiegsstufen in Deutschland, die singuläre Intendanz in Brüssel und die daraus erwachsende, kühn prägende Neugestaltung der Salzburger Festspiele nach Karajan ein. Die bis heute nachwirkende Gründungsintendanz der Ruhrtriennale, die Kunst-Kämpfe an der Pariser Oper, die Absage im kunst-kriselnden New York, sogar die brillant scheiternde Bewerbung in Bayreuth und der kämpferische Neuansatz im Teatro Real Madrids liefern Argumente und Beispiele für ein Musiktheater über 2014 hinaus. Da derzeit fast alle Entscheidungen in Politik und erst recht Ökonomie ohne strategische Nachhaltigkeit getroffen werden, sieht Mortier das „Theater als moralische Anstalt“ mehr denn je notwendig für „Warnung wie Vision“. Er sieht nach dem großen Aufbruch der 1960er Jahre auch die Versprechungen der Postdramatik „vorbei“, ohne dass sich die „Erben und Neuerer kraftvoll bemerkbar machen würden“. Die Manager der großen Häuser qualifizieren sich eher als Virtuosen des „Verkaufs eines beliebigen Produkts als durch Innovationskraft und Kreativität“. Mortier verteidigt daher den politischen Charakter des Theaters in einer verflachenden Mediengesellschaft, die Werte durch Moden ersetzt und in der „der Körper – die äußerliche Erscheinung – das Ich der Person verschlungen hat.“

Um die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, wird Mortier konkret. Er plädiert über seine Größen Monteverdi, Mozart, Verdi, Berlioz und Messiaen hinaus für eine das Publikum anleitende Spielplandramaturgie, um ein „neues Hören und Sehen“ zu fordern und zu ermöglichen: das 20. Jahrhundert habe mehr zeitlos gültige Werke hervorgebracht als das mit vierzig „Klassikern“ perspektivlos stetig repetierte 19. Jahrhundert. Parallel widerlegt Mortier die Argumente so genannter „Werktreue, Tradition und historischer Stimmigkeit“, die an die Träumerei grenze, wie sie „viele in Disneyland suchen“: Das Theater habe auch unsere Alpträume zu erzählen! Differenziert stellt er die von Karajan initiierte Interpretationslinie dar, die dazu geführt hat, dass Plattenlabels Karrieren von großartigen jungen Sängern verhindern, die „nicht den Sex-Appeal von Top-Models für Parfummarken haben“, während doch „die Stimme Dienerin der seelischen Verfassung sein muss“.

Mortier plädiert für Live-Übertragungen zur demokratischen Verbreitung des vermeintlich elitären Gesamtkunstwerks Oper, von Aufführungen durch „Künstler von tiefer Humanität, vollendeter Professionalität, die auf der Suche sind“ – die ihn in Frage gestellt und, bei aller Bereitschaft zum Dialog, nicht auf ihre Ideen verzichtet haben.

Mortiers Forderung und Vision ist ein Theater, das die Routine des Alltäglichen durchbricht, die müde Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt als Normalität in Frage stellt: Nur so könne der Mensch sensibilisiert werden für Fragen des menschlichen Daseins, die nicht durch Gesetze zu regeln sind, nur so sei zu erleben, dass „die Welt besser sein kann, als sie ist“. Gerard Mortier selbst hat es leidenschaftlich ge- und belebt: Theater als Sendung.

Gerard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft. Für ein Theater als Religion des Menschlichen. Aus dem Französischen von Sven Hartberger, Bärenreiter/Metzler, Kass el/Stuttgart 2014, 126 S., € 24,95, ISBN 978-3-7618-2060-5

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